Der Tiger von New York
Auch ein Meisterregisseur wie Stanley Kubrick, dessen Filme wie „Full Metal Jacket“, „Uhrwerk Orange“ und „2001 – Odyssee im Weltraum“ zu zeitlosen Klassikern avanciert sind, haben einmal klein angefangen. Nach seinem heute nahezu vergessenen, sehr experimentellen und von Kubrick selbst verleugneten Debüt „Furcht und Begierde“ (1953) legte Kubrick zwei Jahre später als gerade mal 26-Jähriger mit „Der Tiger von New York“ eine noch etwas holprig inszenierte Mischung aus Film-noir-Krimi und Liebes-Melodram vor, wobei er wie bei seinem Debüt als Regisseur, Drehbuchautor, Kameramann und Cutter in Personalunion fungierte.
Der einst hoffnungsvolle Boxer Davy Gordon (Jamie Smith) verkriecht sich nach einem weiteren verlorenen Kampf in seinem kleinen New Yorker Apartment, von wo er gelegentlich die attraktive, aber ebenso alleinstehende Nachbarin Gloria (Irene Kane) in ihrer im gegenüberliegenden Block befindlichen Wohnung beobachtet. Als Davys Onkel, der den Boxkampf im Fernsehen verfolgt hat, seinen Neffen zu sich auf seine Farm zum Entspannen einlädt, winkt Davy erst einmal erschöpft ab, wird dann aber durch einen markerschütternden Schrei aus Glorias Wohnung aus seiner Lethargie gerissen. Davy sprintet über das Dach auf die gegenüberliegende Seite und kann im letzten Moment verhindern, dass der in die Jahre gekommene Gangsterboss Vincent Rapallo (Frank Silvera), in dessen Club am Times Square Gloria als Tänzerin arbeitet, die verängstigte Frau vergewaltigt. Als Gloria ihrem Retter nach kurzem Zögern erklärt, wie ihr Chef ihr nachzusteigen versucht und deshalb zunehmend verzweifelt, verlieben sich Davy und Gloria ineinander und beschließen schließlich gemeinsam, auf die Ranch von Davys Onkel zu fahren.
Vor Rapallos Tanzlokal verabredet sich Davy für 20 Uhr mit seinem Manager Albert (Jerry Jarrett), um seinen Anteil aus dem letzten Kampf einzukassieren, während Gloria zur gleichen Zeit ihre letzte Gage von ihrem Chef abholen will. Doch so einfach will Rapallo das Objekt seiner Begierde nicht mit einem anderen Mann ziehen lassen, schickt seine Schergen auf den Mann los, der vor der Tür des Tanzlokals offenbar auf Gloria wartet, und stellt Gloria selbst an einem geheimen Ort unter Bewachung …
Kritik:
Mit einem schmalen Budget von gerade mal 75.000 Dollar, die sich Kubrick von Freunden und Verwandten zusammenklaubte, inszenierte der ambitionierte junge Filmemacher 1955 einen gerade mal etwas über einstündigen Film noir in klassischem Schwarzweiß, der weniger durch seine recht konventionelle Geschichte und die stereotypen Figuren überzeugt als durch die semidokumentarischen Charakter und einige interessante Kameraeinstellungen.
Wie in vielen seiner späteren Filmen stehen auch bei „Der Tiger von New York“ gescheiterte Existenzen im Mittelpunkt der Geschichte, hier der erfolglose Preisboxer, der seine besten Tage längst hinter sich hat, dort die ebenso einsame Tänzerin Gloria, die einen schweren Stand gegen ihren eifersüchtigen Chef und Möchtegern-Liebhaber hat. Kubrick legte viel Wert auf den Realismus, ließ sich von Mickey Spillanes und Jim Thompsons Pulp-Krimis inspirieren, um eine Geschichte zu erzählen, die weder besonders originell noch spannend ist, stattdessen von eher hölzern agierenden Darstellern mit platten Dialogen getragen wird.
Nun, Kubrick war erst 26 Jahre alt, machte allein aus Kostengründen vieles selbst und immerhin schon einiges besser als bei seinem Debüt. Es sind eher die interessanten Kamera-Perspektiven, mit denen Kubrick das Publikum in den Film hineinzieht. Das gelingt ihm bereits bei dem Rückblick auf den Boxkampf, der die Geschichte ins Rollen bringt. Kubrick, der 1951 mit „Day of the Fight“ bereits einen kurzen Dokumentarfilm über einen Boxer gedreht hatte, begibt sich mit der Kamera teilweise in die Rolle der Boxer, so dass der Zuschauer sich selbst als Opfer der Prügel fühlt. Der Boxring und die dort bezogenen Prügel stehen aber auch für die raue Welt außerhalb der engen Begrenzungen des Boxrings. Ebenso wie Davy im Ring auf die Bretter geschickt wird, kommt er auch im wirklichen Leben nicht auf die Gewinnerstraße. Ansonsten spielt sich der Film vor allem in typischen New Yorker Wohnungen, Hinterhöfen und Fabriketagen ab, vorzugsweise im Dunkeln. Zu den besten Szenen des Films zählt der finale Kampf zwischen Davy und Rapallo in einem Raum voller nackter Schaufensterpuppen. Hier zeigt sich bereits Kubricks Geschick am Schneidetisch, denn die schnellen Wechsel zwischen den beiden Protagonisten, die Attacken mit Feueraxt und spitzer Fensterstange, die Einbindung der bizarr wirkenden Schaufensterpuppen, die ebenfalls als Waffe benutzt werden, erzeugen eine sehr physische Spannung.
Kubrick selbst wollte mit dem Film einfach nur Erfahrungen sammeln, die zu erzählende Geschichte war für ihn nebensächlich, und er betrachtete den Film nur als wenig besser als seinen Erstling. Dennoch blitzt immer wieder schon ein Funken seiner späteren Meisterschaft auf, und Kubricks Auseinandersetzung mit Freuds psychoanalytischen Schriften ist stellenweise schon deutlich auszumachen, etwa in der als Negativaufnahme präsentierten Traumsequenz oder dem Warnhinweis „watch your step“ im Treppenaufgang von Rapallos Tanzlokal, der die nachfolgende Katastrophe vorwegnimmt.
Auch wenn Kubrick „Der Tiger von New York“ selbst als Amateurfilm betrachtete, konnte er ihn doch an United Artists verkaufen und fortan mit dem von ihm geschätzten Autor Jim Thompson und Produzent James B. Harris zusammenarbeiteten.
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