Raum

Das Schicksal von jungen Frauen wie Natascha Kampusch, die entführt und jahrelang von ihren Peinigern festgehalten werden, erregen naturgemäß großes Medieninteresse, denn in einer Zeit, in der Freiheit zu den selbstverständlichen Grundsätzen einer demokratischen Gesellschaft zählt, wirken Geschichten über langjährigen Freiheitsentzug ohne soziale Interaktionen fast schon abstrakt. Nicht nur Psychologen fragen sich dabei, was diese Tortur aus den Opfern macht.
Regisseur Lenny Abrahamson („Frank“) erzählt in seinem Oscar-prämierten Drama „Raum“ die ebenso erschütternde wie hoffnungsvolle Geschichte einer Mutter, die nach sieben Jahren in Gefangenschaft ihrem fünfjährigen Sohn endlich die Welt da draußen zeigen möchte.
Im Alter von 17 Jahren wollte Joy (Brie Larson) eigentlich nur helfen, dann wurde sie von Nick (Sean Bridgers) gekidnappt und in einem Gartenhaus ohne Fenster eingesperrt, wo sie seit sieben Jahren nur durch ein Oberlicht in den Himmel blicken kann und von Nick nicht nur mit dem Nötigsten versorgt, sondern auch regelmäßig vergewaltigt wird.
Vor fünf Jahren brachte sie ihren Sohn Jack (Jacob Tremblay) zu Welt, dem sie bislang erzählt hat, dass es nur diesen Raum gibt, in dem sie leben, und das Weltall, alles andere – vor allem das, was der Junge in der Flimmerkiste sieht – ist nicht echt. Doch nach seinem fünften Geburtstag will Joy das Lügengespinst nicht mehr aufrechterhalten und plant die Flucht …
Im Gegensatz zum Bestseller-Roman von Emma Donoghue lässt Regisseur Abrahamson den Zuschauer einige Zeit im Unklaren darüber, unter welchen Umständen seine beiden Protagonisten in dem kleinen Raum leben, aus dem sie nicht herausgehen (können). Wir sehen eine Mutter, die sich liebevoll um ihren Sohn kümmert, mit ihm spielt und ihm vorliest, sogar mit ihm zusammen in einem Bett schläft. Nur wenn Onkel Nick vorbeikommt und Essen bringt, muss Jack im Kleiderschrank schlafen. Erst nach und nach wird klar, dass Joy und Jack Opfer einer Entführung sind und gar keine Möglichkeit haben, den Raum zu verlassen.
Unter diesen Umständen versucht Joy ihrem geliebten Sohn das Beste zu bieten, was sie ihm ermöglichen kann – dazu zählt vor allem auch, ihn vor ihrem Peiniger zu beschützen. Abrahamson und sein Kameramann Danny Cohen („The Danish Girl“, „Les Misérables“) bleiben stets dicht bei Ma und Jack, in langen Nahaufnahmen ihrer Gesichter werden all die Emotionen eingefangen, die in Worten kaum ausgedrückt werden können. Wenn Joy ihrem Sohn erklärt, was sich außerhalb des Raums befindet, klingt es zwar wie ein Märchen, entspricht aber ihrem Bedürfnis, die Tragödie und das Leid ihres eigenen Lebens von ihrem Sohn so weit wie möglich fernzuhalten.
Den Oscar für ihre Darstellung der aufopferungsvoll sorgenden Mutter hat sich Brie Larson („The Spectacular Now“, „The Gambler“) mehr als verdient. Der Film endet aber nicht mit der gelungenen Flucht aus dem „Raum“, sondern thematisiert ebenso einfühlsam auch Joys schwierige Rückkehr in die Welt, die für ihren Sohn etwas gänzlich Neues darstellt, dem er mit ebenso viel Angst wie Neugierde begegnet. Dass die neu gewonnene Freiheit nicht nur für die Opfer problematisch ist, sondern auch für die Eltern, die sieben Jahre lang in Ungewissheit über das Schicksal ihrer Tochter verbrachten und dabei ihre Ehe opfern mussten, beschreibt „Raum“ auf ebenso eindringliche Weise. Während Joys Vater Robert (William H. Macy) Jack nicht mal in die Augen sehen kann, nehmen ihre Mutter Nancy (Joan Allen) und ihr neuer Lebensgefährte Leo (Tom McCamus) Joy und Jack mit offenen Armen auf, versuchen auf behutsame Weise, Joy wieder zu sich kommen zu lassen und Jack die überwältigenden Möglichkeiten einer ihm bislang völlig verschlossenen Welt nahezubringen.
Der Film macht vor allem deutlich, wie schwierig gerade für Joy die Rückkehr ins normale Leben ist, aus dem sie vor sieben Jahren unvermittelt gerissen worden ist und in dem sie sich fünf Jahre lang für ihren Sohn aufgeopfert hat. Für Jack, der vor seiner Flucht gar kein anderes Leben kannte, stellt sich diese Herausforderung nicht. Er lässt die neue Welt nur ganz langsam auf sich einwirken, findet sich aber immer besser zurecht.
Das zweistündige Drama, für das Emma Donoghue nicht nur die Romanvorlage, sondern auch das Drehbuch schrieb, brilliert durch seine pointiert agierenden Darsteller, die einfühlsame Inszenierung und einen Erzählton, der bei aller tragischer Härte vor allem die langsam aufkeimende Hoffnung eines neuen Lebens in den Fokus rückt.
"Raum" in der IMDb

Kommentare

Beliebte Posts