Una und Ray

Seit Kenneth Branagh mit seinen Adaptionen von berühmten Shakespeare-Werken wie „Viel Lärm um nichts“, „Henry V.“ oder „Hamlet“ das Theater auch für die Kinoleinwand salonfähig gemacht hat, finden immer wieder interessante Bühnenstücke den Weg ins Kino. Besonders gut gelungen ist dies auch dem australischen Theaterregisseur Benedict Andrews, der David Harrowers Theaterstück „Blackbird“ nun als Film realisierte und dazu anregt, den eigenen moralischen Kompass eventuell neu zu kalibrieren.
Als Una (Rooney Mara) auf einem Foto mit Ray (Ben Mendelsohn) einen alten Freund ihres Vaters entdeckt, besucht sie den leitenden Angestellten eines Logistikzentrums auf der Arbeit und erfährt dort, dass sich Ray mittlerweile Peter nennt und geheiratet hat. Una interessiert sich nach wie vor brennend dafür, warum Ray nicht, wie er der damals 13-Jährigen (Ruby Stokes) versprochen hat, mit ihr aufs europäische Festland durchgebrannt ist, sondern einfach verschwunden ist, bevor er dann verhaftet und zu einer vierjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde …
Im Original heißt der Film nur einfach „Una“ und konzentriert sich tatsächlich eher auf die Geschichte der jungen Frau, die im Alter von 13 Jahren von einem Freund und Nachbarn ihres Vaters missbraucht worden ist und mit den Ereignissen von damals noch immer nicht abgeschlossen hat, weil sie Ray damals wirklich geliebt zu haben scheint und auch für die Videoaufnahme zur Gerichtsverhandlung nur wissen wollte, warum er sie damals verlassen hatte.
Una wird als attraktive junge Frau eingeführt, die trotz der Ereignisse von damals nach wie vor mit ihrer Mutter in ihrem damaligen Zuhause zusammenlebt, einem normalen Bürojob nachgeht und es sich in der Toilette einer Diskothek auch mal eben von Fremden besorgen lässt. Erst durch die erneute Begegnung mit Ray nach so langer Zeit wird deutlich, dass Una längst noch nicht mit der Vergangenheit abgeschlossen hat, während Ray nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis erfolgreich versucht hat, eine normale Ehe und ein geregeltes Leben zu führen.
Was den Film so spannend macht, ist die Dynamik, die aus der erneuten – vor allem für Ray unerwarteten – Begegnung entsteht. Durch die geschickt eingestreuten Rückblenden, in denen deutlich wird, dass die 13-jährige Una tatsächlich in Ray verliebt gewesen ist und auch Ray ernste Absichten gehabt zu haben schien, stellt sich unweigerlich die moralisch komplexe Frage, inwieweit der allgemeine Missbrauchsvorwurf in diesem Fall unzweifelhaften Bestand hat, auch wenn das Mädchen erst dreizehn Jahre jung gewesen ist.
Wie Ray und Una schließlich spätabends in ihrem dunklen Versteck der verlassenen Lagerhallen über die Ereignisse von damals diskutieren, lässt den Zuschauer auf beklemmend-intensive Weise spüren, dass es damals offensichtlich nicht nur um einen simpel zu verurteilenden Missbrauch ging, sondern eine Beziehung entstand, die bis heute stark nachwirkt. Dass diese Grenzüberschreitung überhaupt zum Nachdenken anregt, ist nicht nur der außergewöhnlichen Story zu verdanken, sondern auch Ben Mendelsohn („Star Wars: Rogue One“, „The Dark Knight Rises“) und Rooney Mara („Carol“, „Verblendung“), die der komplexen Struktur und Geschichte ihrer Beziehung emotional berührendes Gewicht verleihen. 
"Una und Ray" in der IMDb

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