Eyes Wide Shut
Stanley Kubrick hat seit jeher eine besondere Faszination für die psychoanalytischen Schriften von Sigmund Freund und Carl Gustav Jung verspürt und diese seit seiner Adaption von Vladimir Nabokovs Klassiker „Lolita“ (1962) auch immer mehr oder weniger stark in seinen eigenen Werken zum Ausdruck gebracht, vor allem in seiner Kriegssatire „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ (1964), „Uhrwerk Orange“ (1971) und „Full Metal Jacket“ (1987). 1999 veröffentlichte Kubrick mit „Eyes Wide Shut“ leider schon seinen letzten Film. Wenige Tage nach Beendigung der Dreharbeiten verstarb der damals 70-Jährige an einem schweren Herzanfall. Seine Verfilmung von Arthur Schnitzlers 1926 veröffentlichter „Traumnovelle“ erforscht auf provokative Weise die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, ausgelebten und erträumten erotischen Phantasien und präsentiert das damalige Schauspieler-Ehepaar Tom Cruise und Nicole Kidman mit ihren vielleicht besten Darstellungen.
Kurz vor Weihnachten werden Dr. William „Bill“ Harford (Tom Cruise) und seine Frau Alice (Nicole Kidman) auf eine Party in das imposante Haus von Victor Ziegler (Sydney Pollack), einem von Harfords gut betuchten Patienten, eingeladen. Dort wird Alice von dem smarten Ungarn Sandor Szavost (Sky du Mont) umgarnt, worauf sich die bereits leicht beschwipste Galeristin auf der Suche nach einem neuen Job bis zu einer gewissen Grenze gerne einlässt. In einem anderen Teil des riesigen Hauses wird Bill von zwei attraktiven jungen Frauen ebenfalls auf verführerische Weise in Beschlag genommen, bis ihn einer von Zieglers Bediensteten um Hilfe bittet.
Die Prostituierte Mandy (Julienne Davis), mit der sich der Hausherr im oberen Stockwerk vergnügt hat, liegt nackt mit einer Überdosis bewusstlos in einem Sessel, doch dem Arzt gelingt es, die junge Frau wieder in einen ansprechbaren Zustand zurückzuholen, worauf er sie eindringlich ermahnt, einen Entzug zu machen.
Wenig später entdeckt William seinen alten Freund und Kommilitonen Nick Nightingale (Todd Field) am Klavier spielen und erfährt im kurzen Gespräch mit ihm, dass Nick noch ein paar Tage im Nachtlokal „Café Sonata“ spielt. Nach der Party vergnügen sich Bill und Alice mit einem Joint und fragen sich über ihre Bekanntschaften auf dem hinter ihnen liegenden Abend aus, wobei sich Alice wundert, warum Bill keine Eifersucht zeigt, während sie ihm aus Eifersucht von einer sexuellen Phantasie erzählt, die sie während ihres letzten Urlaubs auf Cape Cod erlebt hatte. Dort entdeckte sie im Hotel einen jungen Marineoffizier, an den sie ständig habe denken müssen. Ihre Schilderung beendet Alice mit der Feststellung, dass sie für eine Nacht mit dem Offizier alles aufgegeben hätte. Während Bill noch seine Erschütterung über dieses Bekenntnis verarbeitet, erhält er einen Anruf von Marion Nathanson (Marie Richardson), deren Vater gestorben sei. Während Bill im Taxi zu ihr fährt, stellt er sich vor, wie Alice mit dem Offizier schläft, und erlebt im weiteren Verlauf des Abends eine Odyssee ganz unterschiedlicher erotischer Verlockungen. Marion gesteht am Totenbett ihres Vaters Bill ihre Liebe und küsst ihn, was Bill aber nicht erwidert. Als Marions Verlobter auftaucht, geht Bill zu Fuß nach Hause, begleitet die Prostituierte Domino (Vinessa Shaw) in ihre Wohnung, wird aber durch einen Anruf von Alice davon abgehalten, auch mit ihr zu schlafen. Die ausgehandelten 150 Dollar bezahlt er ihr trotzdem. Schließlich landet Bill in dem „Café Sonata“ und unterhält sich mit Nick nach seinem Gig. Als Bill erfährt, dass Nick noch auf einer besonderen Party spielen soll, wo er eine Maske aufsetzen muss und die reiche Gesellschaft sexuellen Obsessionen frönt, lässt sich auch Bill das Kennwort für den Eintritt geben, besorgt sich beim Kostümverleiher Milich (Rade Serbedzija) ein entsprechendes Kostüm und beobachtet dabei, wie Milichs junge Tochter (Leelee Sobieski) mit zwei wesentlich älteren, verkleideten Japanern sexuell verkehrt. Bill gelingt es tatsächlich, Einlass zu dieser geheimnisvollen Party zu bekommen, und wird Zeuge, wie nahezu nackte schöne Frauen bei einem religiös anmutenden Ritual maskierten Männern mit schwarzen Umhängen zugeteilt werden.
Bill wird von seiner Begleiterin ausdrücklich gewarnt, von hier zu verschwinden, da er in höchster Gefahr schwebe. Tatsächlich wird er wenig später als Uneingeweihter demaskiert, doch die Frau, die ihn zuvor noch gewarnt hatte, opfert sich, während Bill tatsächlich unbeschadet das Anwesen verlassen darf. Wenig später erfährt er aus der Zeitung, dass ein Ex-Model mit einer Überdosis tot in einem Hotel aufgefunden wurde. Trotz eindringlicher Warnung, über die Ereignisse auf dem Maskenball Stillschweigen zu bewahren, stellt Bill Nachforschungen an und setzt damit auch seine Ehe aufs Spiel …
Kritik:
Kubrick hat bereits 1960 seiner Wertschätzung für Arthur Schnitzlers Werk zum Ausdruck gebracht, wobei er vor allem dessen Verständnis für die menschliche Seele und sein Einfühlungsvermögen in das menschliche Denken und Handeln bewunderte. 1994 begann Kubrick, mit dem Drehbuch- und Romanautor Frederic Raphael („Die Herrin von Thornhill“, „Die Hure des Königs“) an dem Drehbuch zur Verfilmung der „Traumnovelle“ zu arbeiten, behielt den Rahmen der 1920 in Wien spielenden Geschichte zwar bei, verlegte die Handlung aber nach New York und in die Gegenwart.
Tom Cruise und Nicole Kidman brillieren als glückliches, gutsituiertes Ehepaar in Manhattan, das durch sexuelle Träume in eine Ehekrise gerät. In den symbolischen Farben Rot, Blau und Gelb erzählt Kubrick in sorgfältig inszenierten, bis ins kleinste Detail durchkomponierten und sich sehr langsam bewegenden Bildern von Eifersucht, Begehren, geheimen Träumen, die nahe dran sind, ausgelebt werden zu können, durch Zufälle, moralische Bedenken und den Bund der Ehe aber im Reich der geheimen Lüste verbleiben.
Wie sehr die Thematisierung dieser sexuellen Wunschträume die Beziehung zwischen Bill und Alice belastet, fangen Kubrick und sein Kameramann Larry Smith („Only God Forgives“, „Die Poesie des Unendlichen“) in erotisch aufgeladenen Bildern an, die vor allem auf Zieglers Party und auf dem geheimnisvollen Maskenball zur Geltung kommen, bei dem Kubrick geschickt christliche Bildsymbolik und rituelle sakrale Handlungen mit dem blasphemischen Kontext einer schwarzen Messe verknüpft. Interessant ist die Art und Weise, wie Alice nach den Vorfällen auf der Party allein in ihrer Phantasie, sowohl in ihrer Wunschvorstellung mit dem Marineoffizier als auch in dem Albtraum, dessen Schilderung Bill demütigen soll, den Bereich des ehelichen Bündnisses verlässt, während Bill auf seiner nächtlichen Odyssee durch New York immer wieder ganz konkret mit sexuellen Versuchungen konfrontiert wird.
In der thematischen Auseinandersetzung mit den Moralvorstellungen über Sex in und außerhalb der Ehe und mit den Überschneidungen von Traum und Wirklichkeit lotet Kubrick auf audiovisuell berauschende Weise die sexuelle Begierde des Menschen aus. Damit reiht sich „Eyes Wide Shut“ wunderbar in Kubricks Gesamtwerk ein, das leider viel zu wenig Filme umfasst.
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