Night on Earth

Dass es dem amerikanischen Autorenfilmer Jim Jarmusch in seinen Werken nicht gerade darum geht, eine konventionelle Geschichte mit Einleitung, Hauptteil und Schluss zu erzählen, hat der außergewöhnliche Filmemacher bereits in seinen Frühwerken „Permanent Vacation“ (1980) und „Stranger Than Paradise“ (1984) dokumentiert. Jarmusch geht es vor allem darum, Momentaufnahmen aus dem Leben ganz gewöhnlicher Menschen zu präsentieren, die andere Lebensentwürfe verfolgen, als dem amerikanischen Traum nachzujagen. Bevor Jarmusch 2003 seinen auf drei früheren Kurzfilmen basierenden Episodenfilm „Coffee and Cigarettes“ präsentierte, demonstrierte er 1991 mit „Night on Earth“ bereits seine Meisterschaft in der losen Aneinanderreihung von Geschichten, in denen ein Taxi und die Zeit die einzigen Schnittpunkte darstellen. Nun ist das hochkarätig mit Winona Ryder, Armin Müller-Stahl, Roberto Benigni und Gena Rowlands besetzte Meisterwerk im Rahmen der von StudioCanal veröffentlichten „Jim Jarmusch – The Complete Collection“ auch auf Blu-ray erhältlich.
Die junge, etwas abgerissen wirkende, aber coole Taxifahrerin Corky (Winona Ryder) hat gerade zwei Musiker am Flughafen von Los Angeles abgesetzt, da trifft sie auf die akkurat schick gestylte Casting-Agentin Victoria (Gena Rowlands), die bereits an der Gepäckausgabe wichtige Telefonate führt und auch während der Fahrt nach Beverly Hills die nächsten Termine vereinbart und von ihren jüngsten Entdeckungen unverbrauchter Gesichter schwärmt. Schließlich kommen die beiden so unterschiedlichen Frauen auf Männer und Zukunftspläne zu sprechen. Und hier überrascht Corky die Frau von Welt mit ganz eigenen Vorstellungen von ihrem Leben. Zur selben Zeit sucht YoYo (Giancarlo Esposito) in den verlassenen Straßen von New York ein Taxi. Niemand will ihn nach Brooklyn fahren. Dafür freut sich der aus Dresden stammende, nur gebrochen Englisch sprechende Helmut (Armin Müller-Stahl) über die Aussicht auf eine Fahrt, allerdings bringt er seinen mit Automatik ausgestatteten Wagen nur stotternd in Bewegung. In ihren nahezu identischen Mützen mit den Ohrenwärmern geben sie nicht nur ein amüsantes Couple ab, sondern sie kommen sich über ihre verschiedenen Kulturen und amüsanten Vornamen schnell näher. Als YoYo seine Schwägerin Angela (Rosie Perez) unterwegs ins Taxi zerrt, kommt noch etwas pulsierende Energie ins Taxileben. In Paris ärgert sich derweil der aus der Elfenbeinküste stammende Taxifahrer (Isaach de Bankolé) mit zwei ebenfalls aus Afrika stammenden Diplomaten herum, die sich über ihn lustig machen, und setzt sie kurzerhand in einer verlassenen Gegend aus. Sein Ärger über die unbezahlte Fahrt weicht jedoch schnell seinem Interesse an der blinden jungen Frau (Béatrice Dalle), die danach in sein Taxi steigt. Seine Nachfragen nach ihrem Handicap beantwortet sie überraschend schlagfertig, was sein Interesse nur weiter entfacht. Allerdings sieht er dabei mehr in den Rückspiegel als auf die vor ihm liegende Fahrbahn …
Der römische Taxifahrer (Roberto Benigni) vertreibt sich die Zeit derweil mit endlosen Selbstgesprächen und reagiert auf die Ansagen im Taxifunk mit sexuellen Anspielungen. In diesem Ton quatscht er auch einen Priester zu, den er an einem Brunnen einsteigen lässt, und zwingt ihm eine Beichte auf, bei der er von seinen ersten sexuellen Erfahrungen mit einem Kürbis und einem Schaf berichtet. Dass der herzkranke Priester währenddessen auf der Rückbank mit seinem Leben ringt, entgeht dem geschwätzigen Fahrer allerdings. Im verschneiten Helsinki darf Mika (Matti Pellonpää) in seinem Taxi drei betrunkene Männer chauffieren, von denen einer bereits völlig weggetreten ist. Von dessen beiden Freunden erfährt Mika, dass ihr Kumpel gerade seinen Job verloren habe, sein gerade abbezahltes Auto zu Schrott verarbeitet worden sei, seine Frau die Scheidung wolle und seine minderjährige Tochter schwanger sei. Mika zeigt sich allerdings ganz unbeeindruckt von dem Schicksal seines Fahrgastes und bringt seine eigene Geschichte zum Besten …
Während in seinen „Coffee and Cigarettes“-Episoden die beiden titelgebenden Genussmittel das verbindende Glied untereinander darstellen, sind es in „Night on Earth“ Taxis, in denen nicht nur die Fahrer ihre ganz eigene Geschichte mit sich herumtragen, sondern sie werden auch täglich für die Dauer einer Fahrt mit den unterschiedlichsten Persönlichkeiten konfrontiert, die auf jeweils eigene Art und Weise mit dem Fahrer kommunizieren. Aus diesen Momentaufnahmen hat Jarmusch außergewöhnliche Kurzgeschichten inszeniert, in denen die Taxis die minimalistische Kulisse für die Begegnungen von Menschen darstellen, die sich zwar miteinander unterhalten, aber oft gar nicht wirklich verstehen. Aus diesem Ungleichgewicht entstehen oft wundervoll komische Dialoge und Szenen, die aber nie zu Ende erzählt werden, so dass dem Zuschauer alle Freiheiten bleiben, aus den präsentierten Skizzen die Geschichten zu Ende zu denken.
"Night on Earth" in der IMDb

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