Rocco und seine Brüder

Als Luchino Visconti 1943 mit „Ossessione … Von Liebe besessen“ seinen ersten Film - basierend auf der französischen Übersetzung von James M. Cains „Wenn der Postmann zweimal klingelt“ – drehte, begründete er zugleich das Genre des Neorealismus. Der darin zum Ausdruck kommende Grundsatz, dass im lebendigen Menschen ein leidenschaftliches Wesen steckt und das nicht verwirklichte Leidenschaft Leiden schafft, ist auch in seinem dreistündigen Meisterwerk „Rocco und seine Brüder“ (1960) zu spüren, das in restaurierter Fassung nun über StudioCanal auch auf Blu-ray erhältlich ist.
Nach dem Tod des Familienoberhaupts hat die Großfamilie Parondi in ärmlichen Verhältnissen im Süden Italiens leben müssen. Nun macht sich Mutter Rosaria (Katina Paxinou) mit ihren Söhnen Rocco (Alain Delon), Simone (Renato Salvatori), Ciro (Max Cartier) und Luca (Rocco Vidolazzi) mit dem Zug auf die Reise in die lombardische Metropole Mailand, wohin sie dem Erstgeborenen Vicenzo (Spiros Focas) folgen.
Doch der Empfang bei Vicenzo, der gerade seine Verlobung mit der stolzen Ginetta (Claudia Cardinale) feiert, fällt nicht so herzlich aus wie erwartet. Statt bei ihrem Ältesten unterzukommen, muss Rosario mit ihren jüngeren Söhnen in eine karge Sozialwohnung ziehen und die Männer auf Jobsuche schicken. Während Ciro als Monteur in der Fabrik von Alfa Romeo unterkommt und Rocco einen Job in einer Reinigung erhält, steht Simone wie schon Vicenzo eine Karriere als Boxer bevor. Doch als sich Simone in eine Prostituierte (Annie Girardot) verliebt und im Boxring nicht die gewünschten Erfolge erzielt, verschuldet er sich und verliert sich in einem Strudel aus Alkohol und Gewalt …
Mit „Rocco und seine Brüder“ schuf der aus adligen Verhältnissen stammende Visconti ein episches Sozialdrama, das in kontrastreichen Schwarzweiß-Bildern minutiös dokumentiert, wie eine Großfamilie vom Lande in der Großstadt allmählich zermürbt wird. Die Jobs, die die jungen Männer an Land ziehen, reichen kaum, um die vielen Köpfe ernähren zu können. Erst als Rocco in den Militärdienst eintritt, kann sich die Familie eine größere Wohnung leisten.
Die Zerstörung von Stolz, Ehre und Vertrauen findet ihre adäquate Entsprechung in der Malträtierung der Körper – zunächst am auffälligsten im Boxring, den selbst der zutiefst gutmütige Rocco aufsuchen muss, um die Ehre seines vom rechten Weg abgekommenen Bruders Simone zu retten. Aber auch die Massenschlägerei vor der Sportarena, die Prügeleien zwischen den Brüdern, eine Vergewaltigung und schließlich sogar Mord dienen hier als Spiegelungen der seelischen Zersetzungen, der zerstörten Träume und unerwiderter Liebe.
Viscontis Protagonisten leben ihr Leben als Sklaven, die ihr Schicksal nicht mehr selbst in der Hand haben, sondern von einem Tag auf den anderen ums Überleben kämpfen und nicht dafür, ihre Träume zu erfüllen. Visconti und sein Kameramann Giuseppe Rotunno („Fellinis Stadt der Frauen“, „Wolf – Das Tier im Manne“) beschränken sich dabei auch auf die tristen Sozialbausiedlungen, die Straßenbahnen und die billigen Kneipen. Regen, künstliches Licht und Dunkelheit dominieren die Szenen, Nahaufnahmen von zerschundenen Gesichtern der Boxer drücken ebenso das körperliche wie das seelische Leid der Kämpfenden aus.
Vor allem der junge Alain Delon („Der eiskalte Engel“, „Vier im roten Kreis“) als das gute Herz der Familie und Renato Salvatori („Die Macht und ihr Preis“, „Die letzte Frau“) als aufbrausender Sozialverlierer, aber auch Annie Girardot („Wendekreis der Angst“, „Die Klavierspielerin“) als Prostituierte, die sich nach echter Liebe sehnt, überragen mit ihren Darstellungen. Dazu sorgen die meisterhafte Kameraarbeit und der schöne Score von Nino Rota („Der Pate“, „Der Leopard“) für ein außergewöhnliches audiovisuelles Vergnügen, das in der restaurierten, ungekürzten Fassung besonders gut zur Geltung kommt.
"Rocco und seine Brüder" in der IMDb

Kommentare

Beliebte Posts