Der Rabe

Bevor Henri-Georges Clouzot (1907 – 1977) mit Filmen wie „Lohn der Angst“ (1953) und „Die Teuflischen“ (1955) Klassiker des europäischen Nachkriegskinos inszenierte, schuf er mit „Der Rabe“ 1943 ein damals sehr kontrovers rezipiertes Drama, das geschickt die Mechanismen von Manipulation, Denunzierung, Verrat und Begierde in einem französischen Provinzstädtchen aufzeigt.
Der renommierte Arzt und begehrte Junggeselle Dr. Germain (Pierre Fresnay) wird durch einen anonymen Briefeschreiber beschuldigt, nicht nur Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen, sondern auch eine Affäre mit Laura (Micheline Francey), der attraktiven jungen Frau des weitaus älteren Dekans der Medizinischen Fakultät, Michael Vorzet (Pierre Larquey), zu unterhalten. Zusammen mit dem Hobby-Graphologen Vorzet geht Germain der Frage nach, wer sich hinter dem anonymen Verfasser der Briefe verbergen könnte. Doch auch andere hochangesehene Mitglieder der Dorfgemeinschaft erhalten solche anonymen Briefe, die mit „der Rabe“ unterzeichnet und mit Hinweisen auf ihre jeweiligen Verfehlungen gespickt sind.
Zu den Verdächtigen zählen nicht nur die pubertierende Nachbarin des Doktors, sondern auch die hübsche Denise Saillens (Ginette Leclerc), die den Doktor unter dem Vorwand einer Krankheit zu sich lockt, um ihn zu verführen, und die hartherzige Krankenschwester Marie Corbin (Helena Manson). Nachdem die Hetzjagd erste Todesfälle hervorruft, kippt die Stimmung im Dorf, und die Anstrengungen, die Identität des „Raben“ zu lüften, nehmen immer gewalttätigere Züge an …
Dass Clouzots „Der Rabe“ erst spät seine verdiente Reputation erhielt, hängt mit der ungewöhnlichen Produktionsgeschichte zusammen. Der Film wurde 1943 von der deutschen Continental Film in besetzten Frankreich produziert und sollte propagieren, wie schlecht es um das französische Bürgertum stand, weshalb „Der Rabe“ in Frankreich verboten wurde und Clouzot sogar ein Arbeitsverbot einbrachte, weil er offenbar mit den Deutschen kollaboriert haben sollte.
Gut siebzig Jahre vor den tatsächlichen Auswüchsen des Cyber-Mobbings demonstriert Clouzot in seinem Frühwerk, welche verheerenden Auswirkungen anonyme Denunzierungen auf eine ganze Dorfgemeinschaft haben können. Interessant ist, wie offen die Bürger mit den Briefen umgehen, in denen ihnen durchaus reelle moralische Verfehlungen vorgeworfen werden. Statt sich dieser zu schämen und sie zu vertuschen, sind sie vielmehr daran interessiert, die Identität des „Raben“ festzustellen, wozu sogar in der Schule die Bürger versammelt werden, damit sie Proben ihrer Handschrift abliefern. Germain geht mit diesen Vorgängen zunächst sehr souverän um, kann sich aber weder von den ihn anhimmelnden Denise und Laura fernhalten, was ihn in weitere Schwierigkeiten bringt.
Clouzot präsentierte mit „Der Rabe“ sowohl ein fein gezeichnetes Gesellschaftsportrait der 1940er Jahre als auch ein spannendes Whodunit-Drama und spielte dabei geschickt mit Motiven des deutschen Expressionismus und des Film noir. 
"Der Rabe" in der IMDb

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