Zeit der Unschuld
Auch wenn Martin Scorsese bei vielen für seine Mafia-Filme „GoodFellas“, „Casino“ und „The Irishman“ bekannt ist, hat sich der New Yorker Filmemacher stets um unterschiedliche Genres bemüht, in denen er meist mit großer Detailtreue unterwegs ist. So brillierte er mit dem Billardspieler-Drama „Die Farbe des Geldes“ (1986), scheiterte mit dem Bibel-Epos „Die letzte Versuchung Christi“ (1988), rehabilitierte sich mit dem Meisterwerk „GoodFellas – Drei Jahrzehnte in der Mafia“ (1990), bewährte sich mit „Kap der Angst“ (1991) auch im Thriller-Genre, um dann mit „Zeit der Unschuld“ (1993) einen prächtigen Kostüm- und Liebesfilm nach einem Roman von Edith Wharton zu präsentieren.
Inhalt:
New York in den 1970er Jahren. Der wohlsituierte Anwalt Newland Archer (Daniel Day-Lewis) steht kurz vor der standesgemäßen Hochzeit mit der jungen wie hübschen May Welland (Winona Ryder). Doch der Glaube, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, beginnt zu bröckeln, als Archer die Gräfin Ellen Olenska (Michelle Pfeiffer) kennenlernt, die gerade aus Europa zurückgekehrt ist, um ihre Scheidung von einem polnischen Grafen in die Wege zu leiten. Nachdem bereits ihre Reise nach Europa wegen der Heirat für einen Eklat in der gehobenen Gesellschaft gesorgt hatte, ist die Empörung angesichts der beabsichtigten Scheidung natürlich umso größer, weshalb Archer ihr den Rat gibt, die Scheidung nicht in die Wege zu leiten, damit keine unerfreulichen Gerüchte die Runde machen. Doch mit dieser Entscheidung bringt er sich in einen Gewissenskonflikt, da er eigentlich davon träumt, dass die Gräfin ebenso unabhängig sein würde, wie er sich das für sich selbst erhofft. Obwohl Archer und die Olenska einander lieben, finden sie nicht zueinander, sind zu sehr in den starren gesellschaftlichen Konventionen gefangen, um ihr gemeinsames Glück zu finden …
Kritik:
Schon 1980 kam Martin Scorsese durch seinen Freund, den Drehbuchautor und Filmkritiker Jay Cocks, an den 1920 veröffentlichten Roman „Im Himmel weint man nicht“ der 1930 verstorbenen Schriftstellerin Edith Wharton, doch steckte Scorsese noch mitten in den Dreharbeiten zu „Wie ein wilder Stier“ und kam erst 1985 dazu, den Roman zu lesen, als Daniel Day-Lewis durch den Kinoerfolg „Zimmer mit Aussicht“ bekannt geworden war. Nach jahrelanger Arbeit an einer Drehbuchversion des Romans realisierte Scorsese „Zeit der Unschuld“ erst Anfang der 1990er Jahre und überraschte mit einem gefühlvollen Drama, das ganz ohne die bemerkenswert physische Gewalt seiner Mafia- und Thriller-Stoffe auskam, dafür aber eine emotionale Tortur thematisierte, die ganz durch die gesellschaftlichen Moralvorstellungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts geprägt waren.
Für Scorsese ist die Unmöglichkeit der Liebe zwischen Archer und Gräfin Olenska der Dreh- und Angelpunkt seiner wie gewohnt mit prachtvollen Bildern von Michael Ballhaus illustrierten Geschichte. So vernünftig und nüchtern er die Ehe zwischen dem angesehenen Anwalt und Gräfin Olenskas junger Cousine May inszeniert, so leidenschaftlich lässt er die Funken zwischen den unglücklich Verliebten sprühen, ohne dass nur ein Kleidungsstück abgelegt wird. Die verstohlenen Blicke, die sie sich zuwerfen, die kaum wahrnehmbaren Berührungen in Gesellschaft anderer und die leidenschaftlichen Küsse in unbeobachteten Situationen reichen aus, um als Zuschauer eine Ahnung davon zu bekommen, wie sehr sich die beiden nacheinander verzehren und wie genau die Einhaltung der gesellschaftlichen Konventionen überwacht wird, einmal von der übergewichtigen Mrs. Mingott (Miriam Margolyes), die ihren Einfluss geltend macht, um Ehen zu stiften und Verstöße zu ahnden, zum anderen Larry Lefferts (Richard E. Grant), der nie weit entfernt vom Klatsch und Tratsch ist und seinen Teil dazu beiträgt, dass die Dinge im Lot bleiben.
Wie schon in „GoodFellas“ erweist sich Scorsese in „Zeit der Unschuld“ als detaillierter Chronist des Milieus, setzt eine Erzählerin (Joanne Woodward) ein, die den Zuschauer ausführlich in die Sitten und Gebräuche der Upper Class einführt. Inspiriert von Filmen wie Orson Welles‘ „Der Glanz des Hauses Amberson“, William Wylers „Die Erbin“ und Luchino Viscontis „Der Leopard“, schuf Scorsese mit „Zeit der Unschuld“ eine berührende Liebesgeschichte, die einfach nur an den gesellschaftlichen Zwängen scheitert, was durch die prächtige Ausstattung und die Oscar-prämierten Kostüme noch verstärkt wird. Dazu überzeugen vor allem Daniel Day-Lewis („Der letzte Mohikaner“, „Mein linker Fuß“) und Michelle Pfeiffer („Die Hexen von Eastwick“, „Das Russland-Haus“) als verzweifeltes Liebespaar.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen