Die Zeit nach Mitternacht
Mit seinen Filmen „Taxi Driver“ (1976), „Wie ein wilde Stier“ (1980) und „The King of Comedy“ (1982) – jeweils mit seinem Lieblingsstar Robert De Niro in der Hauptrolle – hatte sich Martin Scorsese endlich die eigene Handschrift zugelegt, nach der er als Autorenfilmer schon zu Beginn seiner Hollywood-Karriere geträumt hatte. Sein nächstes Projekt, an dem er bereits seit vielen Jahren gearbeitet hatte, „Die letzte Versuchung Christi“, ließ sich allerdings nicht finanzieren, so dass Scorsese sich gezwungen sah, einen gefälligeren Stoff zu realisieren, der wieder etwas Geld in die Kassen spülte. Da kam ihm ein Drehbuch von Joseph Minion gerade recht.
„Die Zeit nach Mitternacht“ (1985) markierte die erste Zusammenarbeit von Scorsese mit Kameramann Michael Ballhaus und Komponist Howard Shore.
Paul Hackett (Griffin Dunne) arbeitet in New York als Texterfasser, lässt sich während seiner langweiligen Arbeit aber nur zu leicht von vorbeilaufenden Frauen ablenken. Zuhause zappt der Single lustlos durch das Fernsehprogramm und setzt sich schließlich in ein Café, um in Henry Millers „Wendekreis des Krebses“ zu lesen. Er kommt mit der attraktiven Marcy Franklin (Rosanna Arquette) ins Gespräch und erhält von ihr die Telefonnummer einer Freundin, der Bildhauerin Kiki Bridges (Linda Fiorentino), mit der er sich tatsächlich verabredet. Doch als er im Taxi zu ihr seinen 20-Dollar-Schein durch das Wagenfenster davonfliegen sieht, ist das nur der Beginn einer Nacht voller Missgeschicke, die in einem wahren Albtraum münden. In Kikis geräumigen Studio trifft er auch Marcy, doch gerade als sich die beiden näherkommen, zieht sich Marcy zurück und erzählt wirre Geschichten, die Paul schließlich in die Flucht schlagen.
Auf dem Weg zur U-Bahn wird er von heftigen Regenfällen überrascht, dann reicht nicht mal sein letztes Geld für eine Fahrkarte, so dass er in eine nahezu leere Bar geht, wo er die frustrierte Kellnerin Julie (Teri Garr) und den zuvorkommenden Barbesitzer Tom Schorr (John Heard) kennenlernt, der ihm sogar Geld für die U-Bahn geben will, allerdings seine Kasse nicht aufbekommt. Er gibt Paul die Schlüssel zu seiner Wohnung, behält dafür dessen Schlüssel als Pfand, doch wird er von Toms Nachbarn zunächst als Einbrecher verdächtigt.
Auf dem Weg zurück zur Bar bemerkt er, wie zwei Männer die Skulptur, an der Kiki gerade gearbeitet hat, zusammen mit einem Fernseher in einen Transporter laden wollen. Paul schlägt die vermeintlichen Diebe in die Flucht, bringt Kiki die Skulptur zurück, muss dabei aber feststellen, dass sich Marcy mit einer Überdosis Schlaftabletten umgebracht hat. Während Paul in der Bar erfährt, dass Marcy Toms Freundin gewesen ist, hat sich bereits ein Mob gebildet, der Paul als mutmaßlichen Verantwortlichen für die Reihe von Einbrüchen in SoHo zur Rechenschaft ziehen will …
Kritik:
Nach dem kommerziellen Flop, den Scorsese mit „The King of Comedy“ (der nur 1,2 Millionen der 19 Millionen Dollar Produktionskosten einspielte) erleben musste, kam ein weiteres Großprojekt wie „Die letzte Versuchung Christi“ nicht in Frage, weshalb sich der Filmemacher einer recht intimen und schwarzhumorigen, kafkaesken Geschichte annahm, die er in kurzer Zeit mit kleinem Budget und Ensemble realisieren konnte. Mit Griffin Dunne („American Werewolf“, „Dallas Byers Club“) fand Scorsese nicht nur einen Mitfinanzier, sondern einen wunderbar durchschnittlich wirkenden Hauptdarsteller, der eine wahrlich verrückte Nacht in SoHo mit Menschen verbringt, deren Schicksale auf kuriose Weise miteinander verbunden sind.
Wie der vom Leben gelangweilte Programmierer in einer Nacht von einem Missgeschick zum nächsten stolpert und dabei ganz unterschiedliche, meist vom Leben gezeichnete Frauen kennenlernt, die letztlich seinen Albtraum maßgeblich prägen, ist kurzweilig inszeniert. Immer wieder werden Geschichten angefangen zu erzählen, bis ein Zwischenfall sie zu einem abrupten Ende bringt, wie Marcy Episode über ihren stets abwesenden Ehemann, der ein ausgesprochener Fan von „The Wizard of Oz“ sei und beim Orgasmus immer „Surrender, Dorothy“ schreit, oder Pauls Geschichte darüber, wie er als Kind mit entzündeten Mandeln ins Krankenhaus kam und wegen fehlender Bettenkapazitäten mit einer Binde vor den Augen auf die Station mit Brandopfern gekommen sei.
Die Wiederholung der an sich unspektakulären Grundidee wird vor allem dadurch wettgemacht, dass Ballhaus mit seiner Kamera und den ungewöhnlichen Kamerafahrten und Perspektiven stets für neue Einsichten in das zunehmend chaotischer werdende Nachtleben von Scorseses sympathischen Protagonisten sorgt.
Neben Dunne fesselt vor allem Rosanna Arquette („Susan… verzweifelt gesucht“, „8 Millionen Wege zu sterben“) mit ihrer erfrischenden und temperamentvollen Performance. Scorsese schuf mit „Die Zeit nach Mitternacht“ eine unterhaltsame Hommage an Kafkas „Vor dem Gesetz“, eine Art männliche Version von „Alice im Wunderland“, in der der Held schließlich erkennt, dass er sein Leben ändern muss, um aus der Eintönigkeit seines Jobs und Alltags herauszukommen.
Der Film ist zwar kein Meisterwerk wie „Taxi Driver“ oder „GoodFellas“, aber doch ein kleines Juwel unter Scorseses nicht so bekannten Arbeiten.
"Die Zeit nach Mitternacht" in der IMDb
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