Erbarmungslos

Clint Eastwood, der seinen Durchbruch als Schauspieler seiner markigen Rolle in Sergio Leones „Dollar“-Trilogie („Für eine Handvoll Dollar“, „Für ein paar Dollar mehr“, „Zwei glorreiche Halunken“) zu verdanken hat, blieb dem Western auch in seinen eigenen Regie-Arbeiten treu („Ein Fremder ohne Namen“, „Der Texaner“, „Pale Rider“), doch erst nach über 20 Jahren im Regiestuhl gelang ihm 1992 mit dem Spätwestern „Erbarmungslos“ ein Meisterwerk, das bei neun Nominierungen mit immerhin vier Oscars (für den besten Film, die beste Regie, den besten Schnitt und den besten Nebendarsteller) prämiert wurde.
Als in der Kleinstadt Big Whiskey, Wyoming, der Cowboy Quick Mike (David Mucci) 1880 im Beisein seines Freundes Davey (Rob Campbell) die Prostituierte Delilah (Anna Leine) schlägt und mit einem Messer verstümmelt, weil sie ihn ausgelacht hat, lässt Sheriff Little Bill Daggett (Gene Hackman) keine Gerechtigkeit walten, indem er den Täter bestraft, sondern verpflichtet die beiden jungen Männer nur dazu, dem Saloonbesitzer und Bordellbetreiber Skinny (Anthony James) im Frühjahr fünf Ponys zu bringen, um ihm den finanziellen Verlust auszugleichen, der ihm durch die entstellte Prostituierte entstanden ist. Delilahs Kolleginnen sind von Daggetts Entscheidung so entsetzt, dass sie tausend Dollar zusammenlegen, um sie als Belohnung demjenigen zu zahlen, der die beiden Männer tötet. Das ausgesetzte Kopfgeld zieht einige Revolverhelden an, so den eitlen English Bob (Richard Harris) und seinen Begleiter, den sensationslüsternen Buchautoren W.W. Beauchamp (Saul Rubinek), aber auch den jungen Möchtegern-Revolverhelden Elroy Tate (Jaimz Woolvett), der sich großspurig nach der Marke seiner Waffe „Schofield Kid“ nennt. Da er sich aber nicht traut, den beiden Zielpersonen allein gegenüberzutreten, versucht er, den Ex-Revolverhelden William Munny (Clint Eastwood) anzuheuern, der seine zweifelhafte Karriere für seine Frau Claudia aufgegeben hat und seitdem als Schweinezüchter auf einer kleinen Farm lebt. Doch seit Claudia vor zwei Jahren verstorben ist und nun auch die Schweinepest um sich greift, fällt Munny und seinen beiden Kindern das Überleben schwer. Der altersschwache Mann kann zwar nicht mehr so gut zielen und auch kaum auf ein Pferd aufsitzen, aber die Belohnung kann er gut gebrauchen. Zusammen mit Kid seinem alten Freund und Weggefährten Ned Logan (Morgen Freeman) macht sich Manny auf die Suche nach den beiden Cowboys, doch Sheriff Daggett bereitet den Revolverhelden in seiner Stadt alles andere als einen freundlichen Empfang …
Clint Eastwood räumt in „Erbarmungslos“ mit den Mythen, Heldengeschichten und Glorifizierungen des Western-Genres gnadenlos auf. Wie in den Sergio-Leone-Western, in denen die Revolverhelden nicht mehr um der Gerechtigkeit willen, sondern nur des Geldes wegen töteten, macht sich auch Munny für seinen Anteil an der 1000-Dollar-Belohnung auf, wieder seine alte Profession aufzunehmen. Schließlich geht es um sein Überleben, das ihm seine von der Schweinepest befallenen Tiere nicht mehr gewährleisten können. Aber der alte Gunman ist müde. Beim Übungsschießen mit der Pistole trifft er nicht ein einziges Mal mit der Pistole. Da muss schon ein Gewehr in die Hand genommen werden. Und auch das Aufsitzen auf sein Pferd gerät zur Qual und glückt erst nach einigen Versuchen. Aber nicht nur Munny ist weit entfernt von den Heldenerzählungen des klassischen Western. Auch Little Bill macht als Kleinstadtsheriff eine unglückliche Figur. Er versäumt es, vor allem Quick Mike angemessen zu bestrafen, und setzt so die zunehmend tragische Geschichte in Gang, in der die angesichts dieser Ungerechtigkeit aufgebrachten Prostituierten ein Kopfgeld auf die Peiniger ihrer Kollegin aussetzen. Bei dem Bau seines Hauses erweist sich Little Bill so ungeschickt, dass er von seinen Deputys nur verspottet wird.
Während der Versuche, wieder Ordnung und Gerechtigkeit herzustellen, werden immer wieder Möglichkeiten aufgezeigt, Schlimmeres zu verhindern, etwa wenn der junge Cowboy der geschändeten Prostituierten sein bestes Pferd als Entschädigung schenken will, von den anderen Frauen aber mit Schmutz beworfen und fortgejagt wird. Auch in anderen Situationen, wenn Little Bill Munnys Freund Ned auspeitscht, damit dieser Munnys Aufenthaltsort verrät, geraten die Dinge außer Kontrolle und führen schließlich zu dem dann doch wieder genretypischen Shootout. Doch das vermeintlich versöhnliche Ende schafft keinen Frieden, sondern nur Ernüchterung.
Eastwood erzählt in „Erbarmungslos“ von vielen allzu menschlichen, nicht heldenhaften Schicksalen, erzählt Geschichten von vergangenem Ruhm, von Versuchen, im Leben das Richtige zu tun, von verlorenen Hoffnungen und Träumen, von Reue und Selbsttäuschung. Obwohl Eastwood selbst die Hauptrolle verkörpert, dürfen auch Gene Hackman („Mississippi Burning – Die Wurzel des Hasses“, „French Connection – Brennpunkt Brooklyn“), Richard Harris („Gladiator“, „Harry Potter und die Kammer des Schreckens“) und Morgan Freeman („Sieben“, „Million Dollar Baby“) in ihren Rollen vielschichtige Figuren verkörpern, die ihre eigene Geschichte erzählen. Eastwood verleiht seinen Figuren eine tragische psychologische Tiefe und entfernt sich so weit wir möglich von den Konventionen des Genres, um den Mythos der Westernhelden zu entzaubern. Dabei sorgt auch die untypische, düstere Musik von Lennie Niehaus dafür, dass „Erbarmungslos“ weniger wie ein Western als ein Film noir wirkt, der Eastwood auch als Regisseur endlich zu einem Meister seines Faches werden ließ.
"Erbarmungslos" in der IMDb

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