Wildwechsel

In seiner langjährigen Theaterkarriere hat Rainer Werner Fassbinder nicht nur eigene Stücke auf die Bühne gebracht - die er oftmals wenig später auch verfilmt hat, wie z.B. „Katzelmacher“, „Der amerikanische Soldat“ und „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ -, sondern auch mehr oder weniger prominente Vorlagen von Goethe („Iphigenie auf Tauris“), Sophokles („Ajax“), Carlo Goldoni („Das Kaffeehaus“) oder Lope de Vega („Das brennende Dorf“). Gelegentlich hat Fassbinder aber auch Bühnenstücke anderer Autoren direkt auf die Leinwand gebracht, so geschehen 1972 mit Franz Xaver Kroetz‘ „Wildwechsel“, das auf einem Kriminalfall aus den 1960er Jahren basiert und im Auftrag des Senders Freies Berlin (SFB) von der Intertel Television München im niederbayerischen Straubing und in der Umgebung realisiert worden ist.

Inhalt:

Die für ihre 14 Jahre körperlich und geistig bereits recht reife Hanni (Eva Mattes) wird von ihren kleinbürgerlichen Eltern (Jörg von Liebenfels, Ruth Drexel) noch immer wie ein unselbstständiges Kind behandelt. Als sie den 19-jährigen Geflügelfabrik-Arbeiter Franz (Harry Baer) kennenlernt, lässt sie sich mit seinem Moped in eine Scheune auf dem Land fahren und schläft dort mit ihm. Aus Neid zeigt ihn ein Freund an, worauf Franz wegen Verführung einer Minderjährigen zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Nach seiner vorzeitigen Haftentlassung wegen guter Führung treffen sich Franz und Hanni wieder regelmäßig, versuchen diesmal aber, unbeobachtet zu bleiben, doch kommt Hannis Vater schnell hinter die heimlichen Treffen. Als Hanni schwanger wird, wollen sie abtreiben, fürchten aber, dass Hanni dann der Polizei überstellt wird. Als Hannis Vater ihr bei weiteren Treffen droht, Franz anzuzeigen, besorgt Hanni eine Pistole und überredet sie Franz, ihren Vater zu erschießen, weil er ihrer Liebe im Wege stehe…

Kritik:

Kroetz und Fassbinder nahmen sich für „Wildwechsel“ einen realen Kriminalfall vor.
1967 wurde der Vater der damals 13-jährigen Erika B. in Lohne (Oldenburg) von seiner eigenen Tochter und dem 19-jährigen Alfred M. mit einem Gewehr erschlagen. Dem vorausgegangen war das Verhältnis Erikas mit Alfred, der deswegen zu einer neunmonatigen Jugendstrafe verurteilt wurde, aus der er vorzeitig entlassen wurde. Nach Verbüßung der Strafe führten sie ihre Beziehung fort, bis Erika schwanger wurde. Also beschlossen sie, den Vater umzubringen. Vor allem Fassbinders Verfilmung avancierte zu einem Skandal und wurde Kroetz selbst als „Pornographie mit sozialkritischem Touch“ abgetan. Tatsächlich präsentieren sich Eva Mattes und Harry Baer ungewöhnlich freizügig für eine Fernsehproduktion und ist immer noch mit einer Altersfreigabe ab 18 versehen. Von Pornographie kann jedoch keine Rede sein. Stattdessen versucht das junge Paar nur, der kleinbürgerlichen Enge zu entkommen, notfalls mit Gewalt, denn die Moralvorstellungen der Eltern sind so in Stein gehauen, dass mit Liebe und Argumenten nichts zu ändern ist. Dabei ist es nicht mal Liebe, die Hanni und Franz miteinander verbindet, sondern pure Lust. Ihre Gefühle wissen sie ebenso wenig wie die Eltern zu artikulieren.

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