Welt am Draht

Seit die Wachowski-Geschwister 1999 mit ihrem philosophischen Science-Fiction-Action-Meisterwerk „Matrix“ die Diskussion um Wahrnehmung, Bewusstsein, konstruierte Realitäten und Identität in einen popkulturellen Kontext verlegt haben, sind renommierte Filmemacher wie David Cronenberg („eXistenZ“), Christopher Nolan („Inception“), Darren Aronofsky („The Fountain“) oder Alex Proyas („Dark City“) diesen Fragen nachgegangen. Doch ausgerechnet der deutsche Autorenfilmer Rainer Werner Fassbinder („Liebe ist kälter als der Tod“, „Martha“, „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“) hat bereits 1973 mit dem vom WDR produzierten TV-Zweiteiler „Welt am Draht“ den Anstoß für die Diskussion um virtuelle Realitäten gegeben.

Inhalt:

Eben noch war Professor Vollmer (Adrian Hoven) am Institut für Kybernetik und Zukunftsforschung mit der Leitung des Projekts Simulacron 1 beauftragt, das das virtuelle Leben in einer Kleinstadt zu simulieren in der Lage ist, als er unerwartet in seinem Büro tot zusammenbricht, nachdem er zuvor immer wieder über Kopfschmerzen geklagt und wirres Zeug über eine unfassbare Entdeckung geredet hatte. Vollmers Assistent Dr. Fred Stiller (Klaus Löwitsch) übernimmt zwar die Leitung, findet sich aber weder mit Vollmers Tod noch mit dem plötzlichen Verschwinden von Sicherheitschef Günther Lause (Ivan Desny) ab, der Stiller gegenüber auf einer Party mysteriöse Andeutungen zu Vollmers Tod gemacht hat. 
Um den beiden Vorfällen auf den Grund zu gehen, bittet Stiller seinen Freund Fritz (Günter Lamprecht), ihn mit der virtuellen Welt der Simulation zu vernetzen, um dort Anhaltspunkte zur Erklärung zu finden, denn außer ihm selbst scheint sich niemand an Lause zu erinnern. Diese Simulation läuft rund um die Uhr und wird von „Identitätseinheiten“ bevölkert, die in etwa dasselbe Leben führen wie normal lebende Menschen und ein Bewusstsein besitzen. Außer einer einzigen „Kontakteinheit“ weiß keiner der simulierten Menschen, dass ihre Welt eine Simulation bzw. ein Simulakrum ist. Die kuriosen Ereignisse in seiner Wahrnehmung häufen sich, und vor allem die Identitätseinheit „Einstein“ (Gottfried John) stiftet mit ihrem Drang über die Grenzen der eigenen Virtualität hinaus erhebliche Verwirrung, die bald das gesamte Leben des Wissenschaftlers beherrscht. 
Je tiefer Stiller gräbt, desto größer wird der Widerstand, der ihm entgegengebracht wird, auch von seinem Vorgesetzten Herbert Siskins (Karl-Heinz Vosgerau), der gute Kontakte zur Industrie unterhält...

Kritik:

Der dreieinhalbstündige Fernseh-Zweiteiler „Welt am Draht“ nimmt definitiv eine Sonderstellung in Fassbinders umfangreichem Schaffen ein, beschäftigt sich die Verfilmung des Science-Fiction-Romans „Simulacron-3“ von Daniel F. Galouye aus dem Jahr 1964 doch mit der nahen Zukunft und vor allem mit der Frage nach der eigenen Wahrnehmung der Welt, in der wir leben. Geschickt verbreiten Fassbinder und Kameramann Michael Ballhaus von Beginn an eine bedrückende Atmosphäre, die durch zunächst unerklärliche oder wenigstens in ihrem Zusammentreffen ungewöhnlich wirkenden Ereignisse in einer bewusst steril inszenierten Kulisse geschaffen wird, um dann in der Figur des beharrlich nach der Wahrheit suchenden Wissenschaftlers Stiller ein zunehmendes Gefühl der Paranoia zu erzeugen, das vor allem deutlich macht, wie schwierig es ist, zwischen Oben und Unten, zwischen Realität und Simulakrum zu unterscheiden. 
Im Gegensatz zu den eingangs erwähnten Hollywood-Regisseuren kommt Fassbinder dabei ohne große Special Effects und Action-Elemente aus. Stattdessen spielen sich die Gedanken um die Auswirkungen der Möglichkeit, zwischen verschiedenen Welten zu agieren, ganz im Kopf des Publikums ab, wobei Fassbinder philosophische Referenzen bei Platon und Aristoteles integriert und das Paradoxon um den griechisch-mythologischen Heros Achilles und dessen Wettrennen gegen die Schildkröte erwähnt. „Welt am Draht“ fasziniert nicht nur durch die vertrackte Story, die erhöhte Aufmerksamkeit erfordert, sondern ebenso durch eine für Fassbinder ungewöhnliche Vielzahl an Schauplätzen und einem imponierend umfangreichen Cast, in dem viele alte Bekannte aus der Fassbinder-Familie (Klaus Löwitsch, Wolfgang Schenck, Günter Lamprecht, Gottfried John, Ulli Lommel, Kurt Raab, Margit Carstensen, Ingrid Caven, Katrin Schaake, Rudolf Waldemar Brem und Barbara Valentin) und Altstars wie Adrian Hoven, Ivan Desny, Karl-Heinz Vosgerau, Christine Kaufmann, Eddie Constantine oder Walter Sedlmayr zu sehen sind. 1999 wurde „Simulacron-3“ übrigens erneut als „The 13th Floor“ verfilmt.

Kommentare

Beliebte Posts