Das Piano

Die neuseeländische Filmemacherin Jane Campion ist graduierte Anthropologin und Malerin gewesen, bevor sie Anfang der 1980er die australische Schule für Film und Fernsehen besuchte und ihre ersten Kurzfilme inszenierte. Nachdem bereits ihre ersten Langfilme preisgekrönt wurden, gewann sie mit ihrem 1993 entstandenen Drama „Das Piano“ internationale Aufmerksamkeit, als sie als erste Frau die renommierte Palme D’Or in Cannes in Empfang nehmen konnte. Schließlich gewann der Film drei Oscars für das beste Originaldrehbuch von Jane Campion und die beiden Darstellerinnen Holly Hunter und Anna Paquin. Am 19.11. wurde das eindringlich gespielte und inszenierte Drama beim Eröffnungskonzert des 33. Braunschweig International Film Festival als Live-to-Film-Concert gezeigt, mit der von Andrew Berryman dirigierten und vom Staatsorchester Braunschweig eingespielten Musik von Michael Nyman.
Aus ungeklärten Gründen spricht Ada (Holly Hunter) seit ihrem sechsten Lebensjahr kein Wort. Nun hat sie ihr Vater an den neuseeländischen Siedler und Farmer Alisdair Stewart (Sam Neill) verheiratet. Auf der langen Reise von Schottland nach Neuseeland, die sie Mitte des 19. Jahrhunderts antritt, wird sie von ihrer neunjährigen unehelichen Tochter Flora (Anna Paquin) und ihrem geliebten Piano begleitet, das ihrem Innenleben eine Stimme verleiht. Entsprechend aufgebracht ist sie, als ihr Mann sich weigert, das Piano vom Strand, an dem die Damen nach einer langen Überfahrt gelandet sind, ins Haus schleppen zu lassen, da der Weg durch den unwirtlichen, schlammigen Dschungel zu beschwerlich sei. Ada übermittelt ihren Unmut nicht nur mit strenger Miene, sondern mit Hilfe eines kleinen Notizblocks oder per Zeichensprache, die ihre Tochter in genau dem entrüsteten Ton übersetzt, den ihre Mutter für ihre Worte vorgesehen hat. Da sie sich ein Leben ohne ihr Piano nicht vorstellen kann, bittet Ada Stewarts Nachbarn George Baines (Harvey Keitel), sie zu der Stelle zu führen, wo sie das Piano zurücklassen mussten.
Zunächst weigert sich Baines, verkauft dann Stewart aber ein Stück Land für das Klavier und geht mit Ada einen Handel ein: Vorgeblich soll Ada Baines Klavierunterricht erteilen, doch Baines will Ada, von der er zunehmend fasziniert ist, zunächst nur spielen hören. Dann tauscht er einzelne Tasten gegen Gefälligkeiten, die Ada ihm gewähren soll. Aus diesem Arrangement entwickelt sich eine gefährliche Affäre, auf die zunächst Flora aufmerksam wird, dann aber auch Stewart, der zuvor vergeblich versucht hat, eine Beziehung zu seiner steif wirkenden Frau aufzubauen …
Bereits in den ersten Szenen gelingt es Jane Campion, interessante Gegensätze zu inszenieren: der unruhigen letzten Etappe von Adas Überfahrt im Ruderboot steht ihre viktorianisch strenge Ausstrahlung gegenüber, die auf ihren Ehemann alles andere als attraktiv wirkt. Schon bei ihrer ersten Begegnung am Strand scheint Stewart mit der Situation überfordert und sich zu fragen, auf was er sich da wohl eingelassen hat. Mit der Ankunft an dem Strand treffen aber auch Zivilisation und Natur, die europäischen Siedler und die einheimischen Maori aufeinander. Dazwischen steht ausgerechnet Baines, der sich von der Zivilisation zurückgezogen hat und sich bei den Maori heimisch fühlt, die er für Stewarts Aufträge anführt.
Die Leidenschaft, die die nach außen hin zu streng und verschlossen wirkende Ada beim Spielen auf ihrem Piano zum Ausdruck bringt, fesselt ihn allerdings so stark, dass er sich auf ein gefährliches Unterfangen einlässt. „Das Piano“ brilliert nicht nur in der Gegenüberstellung von Natur und Zivilisation, von strengen Umgangsformen und ungezügelter Leidenschaft, sondern vor allem in der schwierigen Konstellation der Beziehungen zwischen Stewart, Ada, Flora und Baines. Die Freundschaft zwischen Stewart und Baines, aber auch die anfangs so symbiotisch wirkende Beziehung zwischen Ada und ihrer Tochter werden durch das Arrangement der Eheschließung auf eine harte Probe gestellt. Stewart ist so mit seinen Geschäften befasst, dass er nicht auf die Idee kommt, dass ihn sein bester Freund mit seiner Frau betrügen könnte. Und als Ada allmählich Baines‘ Gefühle zu erwidern beginnt und Flora feststellen muss, dass ihr nicht mehr die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Mutter gebührt, nimmt das Drama seinen unvermeidlichen Verlauf. Darauf weist vor allem die Bühnenaufführung der Siedler in der örtlichen christlichen Missionsstation von „Blaubart“ hin, bei der in einer eindrucksvoll im Stil eines Schattenspiels Blaubart seiner jungen Ehefrau die Hand abhackt, weil sie sein Verbot missachtet hat, die Kammer zu betreten, wo die Leichen seiner zuvor ermordeten Ehefrauen beherbergt sind.
Jane Campion hat das für Oscars nominierte Drama „Das Piano“ in eindringlichen Farben eingefangen, wobei die intensiven Blau- und Grüntöne die wilde Welt des Dschungels einfangen und warme Brauntöne die vermeintliche Sicherheit und Geborgenheit eines sorgfältig gezimmerten Zuhauses. Wie sich die Art der Beziehungen verändert, wird schon dadurch deutlich, dass Ada und ihre Tochter zu Anfang noch wie ein Körper zusammen im Bett liegen, später teilt sich Ada das Bett lieber mit Baines. Das Beziehungsdrama funktioniert aber auch nur deshalb so gut, weil die Schauspieler ihre Rollen so perfekt ausfüllen, allen voran Holly Hunter („Copykill“, „O Brother, Where Art Thou?“) als stumme Ada, die sich – wie ihre inneren Monologe als Voice-Over betonen – gar nicht so ausdruckslos fühlt, weil sie ja das Piano besitzt. Nicht nur in ihrem Klavierspiel (das sie übrigens selbst performt hat), sondern auch in ihrem ausdrucksvoll Spiel von Mimik und Gestik bringt sie eine Leidenschaft und Zerrissenheit zum Ausdruck, die auch im Leben der anderen Protagonisten zu spüren ist. Während Stewart sich auf die Ehe einließ, weil ihm Adas Stummheit nichts auszumachen schien, muss er bereits bei ihrer Ankunft feststellen, dass er nicht weiß, wie er ihre Zuneigung gewinnen kann. Diese undankbare Aufgabe des hilflosen Ehemanns, der vor allem darauf bedacht ist, nicht das Land zu verlieren, das ihm Stewart für das Piano versprochen hat, erfüllt Sam Neill („Jurassic Park“, „Die Mächte des Wahnsinns“) mit Bravour. Aber auch Harvey Keitel („Bad Lieutenant“, „The Irishman“) überzeugt als zurückgezogen lebender Baines, der sich zwar eher den Maori zugehörig fühlt, durch Adas Klavierspiel aber eine Leidenschaft in sich erwecken spürt, die nur ein dramatisches Ende nach sich ziehen kann. Die größte Überraschung stellt allerdings die junge Anna Paquin dar, die nicht nur ihrer Mutter eine lautstarke, temperamentvolle Stimme verleiht, sondern in ihrer dann doch wieder kindlichen Eifersucht maßgeblich dazu beiträgt, die Katastrophe ins Rollen zu bringen.
Das emotional ergreifende und wundervoll gespielte Drama überzeugt auch durch die Oscar-nominierte Kameraarbeit von Stuart Dryburgh („Portrait of a Lady“, „Alice im Wunderland – Hinter den Spiegeln“) und die einfühlsame Musik von Michael Nyman („Gattaca“, „Das Ende einer Affäre“).
"Das Piano" in der IMDb

Kommentare

Beliebte Posts