Giraffe

Vor fünf Jahren präsentierte die damals 30-jährige dänische Regisseurin Anna Sofie Hartmann beim Braunschweig International Film Festival ihr Langfilmdebüt „Limbo“. Beim diesjährigen Filmfest in Braunschweig präsentierte sie ihr Zweitwerk mit dem ungewöhnlichen Titel „Giraffe“. Eine solche ist zwar kurz in der Eröffnungsszene des Films zu sehen, doch thematisch beschäftigt sich Hartmann mit den Auswirkungen, die der Bau eines Tunnels zwischen Deutschland und Dänemark auf ganz verschiedene Menschen aus unterschiedlichen Ländern nach sich zieht.
Für eine Museumsstiftung dokumentiert die in Berlin mit ihrem Freund zusammenlebende dänische Ethnologin Dara (Lisa Loven Kongsli) die ganz persönlichen Folgen für die Menschen, die ihre Häuser für den geplanten Tunnelbau aufgeben müssen, der Dänemark und Deutschland miteinander verbinden soll. Sie befragt die Menschen zu ihren Erinnerungen an ihr Zuhause und zu ihren Gefühlen zum bevorstehenden Umzug, sucht die bereits verlassenen Häuser auf und blättert in zurückgelassenen Fotoalben. Besonders angetan hat es ihr das Tagebuch der Bibliothekarin Agnes, die sie aufzufinden versucht. Nach Feierabend telefoniert sie mit ihrem Freund in Berlin und lernt am Strand den 24-jährigen polnischen Bauarbeiter Lucek (Jakub Gierszał) kennen, der mit seiner polnischen Truppe Glasfaserkabel für das Tunnelprojekt verlegt und hofft, durch seine Montage-Jobs so viel verdienen zu können, dass er für sich und seine Freundin bald ein Haus kaufen kann. Die 38-Jährige beginnt eine Affäre mit dem jungen Polen, ist aber nicht bereit, ihren Freund zu verlassen …
In ihrem zweiten Langfilm geht Anna Sofie Hartmann der Frage nach, welche Folgen die Globalisierung, das Leben, Lieben und Arbeiten in einem vereinten Europa für die Menschen nach sich zieht, die einen aktiven Teil dieser Migration mit all ihren Nebenwirkungen darstellen. Da ist auf der einen Seite die in Dänemark geborene und in Berlin mit ihrem Freund zusammenlebende Ethnologin, die für das Forschungsprojekt in ihre Heimat zurückkehrt. In dem schlichten Zimmer einer dänischen Hotelkette kommt allerdings kein Heimatgefühl auf. Für den jungen polnischen Bauarbeiter Lucek entwickelt sie nur eine körperliche Nähe, will sich aber auf keine verbindlichere Beziehung mit ihm einlassen.
Auch für die polnischen Bauarbeiter gestaltet sich die lange Trennung von ihren Familien schwierig. Wie die dokumentarisch eingeflochtenen Interviews mit Luceks Kollegen verdeutlichen, würden die Arbeiter in ihrer Heimat zu wenig verdienen, um ihren Familien eine gute Ausbildung und ein angenehmes Leben ermöglichen zu können, weshalb sie die Strapazen der Montage in anderen Ländern auf sich nehmen. Doch ebenso wie die Menschen, die für bessere Lebensbedingungen zum Arbeiten ins Ausland gehen, stehen in Hartmanns Film diejenigen im Mittelpunkt, die als Preis für das Zusammenwachsen der europäischen Nationen ihr Zuhause verlassen müssen. Nur die zum Abriss vorgesehenen Ruinen der teils bereits verlassenen Häuser, alte Fotos und Tagebücher zeugen noch von einem in Heimat und Familie verwurzelten Leben, das durch den Tunnelbau einer ungewissen Zukunft entgegensieht. Besonders eindringlich fängt die Regisseurin dies in dem ersten Interview mit Birte und Leif ein, die ihr über Generation vererbtes Haus verlassen müssen. Diese emotionale Tiefe erreicht der Film danach nicht mehr. Stattdessen beschränkt sich Hartmann darauf, verschiedene Schicksale zu dokumentieren, ohne daraus eine Geschichte zu weben oder eine Entwicklung nachzuvollziehen.
„Giraffe“ ist ein Film über Erinnern, über Heimat, über Tradition und Moderne, Identität und Entwurzelung. Die Filmemacherin beobachtet und dokumentiert dabei nur, überlässt dem Zuschauer – wie beim völlig losgelösten, titelgebenden Bild der Giraffe zu Beginn – das freie Assoziieren. Menschen begegnen und trennen sich wieder, die Folgen dieser selektiven, doch irgendwie typischen Ereignisse vor dem Hintergrund einer sich schneller verändernden Welt werden nicht weiter hinterfragt oder interpretiert. Wer also eine dramaturgisch ausgeklügelte Geschichte über Heimat und Entwurzelung, über Liebe, die sich über nationale Grenzen hinaus entfaltet, erwartet, wird zwangsläufig enttäuscht. Dagegen lenkt „Giraffe“ den Blick auf Schicksale, wie sie in der hier geschilderten Form überall in Europa erlebt werden können.
"Giraffe" in der IMDb

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