Passed by Censor

In seinem Meisterwerk „Blow Up“ thematisierte Michelangelo Antonioni bereits 1966 die zu einer Obsession werdenden Faszination, die ein Foto auf den Betrachter ausübt. Auf ein ähnliches Terrain begibt sich der türkische Filmemacher Serhat Karaaslan, der nach drei Kurzfilmen mit „Passed by Censor“ sein Langfilmdebüt beim 33. Braunschweig International Film Festival als Deutschland-Premiere präsentierte.
Unter seinen Kollegen, mit denen er in einem Istanbuler Gefängnis Briefe zensiert, die an die Gefangenen oder von ihnen geschrieben worden sind, gilt Zakir (Berkay Ates) als gebildetster, so dass er immer wieder nach Bedeutung von Wörtern gefragt wird, die seine Mitzensoren nicht kennen. Tatsächlich verschafft ihm der Berufsalltag wenig Befriedigung. In seiner Freizeit besucht Zakir, der noch bei seiner Mutter (Fusum Demirel) lebt, einen Kurs für Kreatives Schreiben und tauscht sich darüber mit seiner Mitkurteilnehmerin und irgendwie auch Freundin Emel (Ipek Turktan Kaynak) aus, die auf Detektivgeschichten à la Agatha Christie steht. Als Hausaufgabe sollen sie sich ein beliebiges Foto aussuchen und dazu eine Geschichte erfinden. Ausgangspunkt für die gestellte Aufgabe ist für Zakir das Foto, das einem Brief beiliegt, das die Familie eines der Gefängnisinsassen zeigt, wobei Zakir besonders von der Frau angetan ist, die er als Selma (Saadet Isil Aksoy) identifiziert, offenbar die Frau des Häftlings. Zakir beginnt, der Frau und ihrem Schwiegervater zunächst bei ihren Gefängnisbesuchen hinterherzuspionieren, und entdeckt bei der Eingangskontrolle, dass sie ein Korsett trägt, das – wie Zakir von Emel erfährt – entweder bei einem Bandscheibenvorfall oder der Vertuschung einer Schwangerschaft Anwendung findet. In Selmas Blicken glaubt Zakir Angst zu entdecken, der er auf den Grund gehen will. Schließlich verfolgt er die Frau bis nach Hause …
Eigentlich wollte Karaaslan, der durch die Korrespondenz mit einem politischen Gefangenen zu „Passed by Censor“ inspiriert worden war, wieder einen Dokumentarfilm drehen, doch da er keine Drehgenehmigung für ein türkisches Gefängnis erhielt, machte er aus der Not eine Tugend und machte einen Spielfilm draus, der zwar die Zensurmethoden in türkischen Gefängnissen thematisiert, vor allem aber ein leises, mit humorvollen Elementen durchsetztes Thriller-Drama darstellt, das von der Vorstellungskraft seines Protagonisten lebt. Bis zum Schluss bleibt nämlich ungeklärt, wie viel Wahrheit hinter Zakirs Vermutungen steckt, die ihn zu immer tollkühneren Aktionen verleiten. Interessant wird dabei der Zusammenhang von dem Umgang mit Worten herausgearbeitet, das Ausradieren von Worten und Sätzen im Gefängnisalltag auf der seinen Seite, der Wunsch, seiner Vorstellungskraft in Worten und Geschichten Ausdruck zu verleihen, auf der anderen. In dem Spannungsfeld zwischen Kreation und Zerstörung gewinnt die Kraft der Imagination im Verlauf der Geschichte eine immer größere Bedeutung und verleiht dem Film schließlich seine Spannung.
Das funktioniert deshalb so gut, weil nicht nur Berkay Ates den irgendwie verträumten und zunehmend obsessiven Anfänger-Autor verkörpert, sondern weil auch das Objekt seiner Faszination durch ihre eindringlichen Blicke und ihr geheimnisvolles Verhalten viel Raum für alle möglichen Spekulationen hergibt. Bei dieser vielschichtig interpretierbaren Story über die Fantasie eines Geschichtenschreibers geraten der düstere Gefängnisalltag und die repressiven Methoden der Zensur zunehmend in den Hintergrund. Schließlich werden den Gefangenen bei guter Führung auch Zusammenkünfte mit der Ehefrau in rosa gestrichenen Zellen gewährt.
"Passed by Censor" in der IMDb

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