Der Läufer

Im Jahre 2001 und 2002 machte der junge Langstreckenläufer Mischa Ebner den Raum Bern unsicher, als er mehrere Frauen überfiel und schließlich sogar eine tötete. Nun hat sich der Schweizer Hannes Baumgartner der Geschichte angenommen und mit „Der Läufer“ ein aufwühlendes Drama inszeniert, das im Programm des 33. Braunschweig International Film Festival in der Reihe „Neue Deutsche Filme“ präsentiert worden ist.
Seit die Brüder Philipp (Saladin Dellers) und Jonas Widmer (Max Hubacher) früh von ihren leiblichen Eltern getrennt wurden, sind sie unzertrennlich gewesen. Philipps Selbstmord macht Jonas schwer zu schaffen. Schließlich war ihm Philipp auch beim Training zum berühmten Langenfelder Waffenlauf eine große Unterstützung, begleitete ihn auf dem Fahrrad und war nach dessen Sieg der erste Gratulant. Auch wenn er sein Leben zwischen seinem Job als Koch und dem Training für die bevorstehenden Olympischen Spiele gut geregelt bekommt und mit Simone (Annina Euling) eine glückliche Beziehung führt, wird er immer wieder von Albträumen und Depressionen geplagt. Der Zustand verschlimmert sich, als Jonas seinen Titel beim Langenfelder nicht verteidigen kann und „nur“ als Zweiter ins Ziel einläuft.
Zu der schmerzlichen Niederlage gesellt sich noch eine Verletzung, die eine mindestens dreiwöchige Trainingspause nach sich zieht, die er jedoch vorzeitig heimlich beendet. Bei einem seiner abendlichen Läufe wird er Zeuge, wie eine junge Frau vor ihm auf einer Brücke stürzt, doch als er ihr aufhelfen will, wird Jonas nur angeschnauzt. Im Affekt entreißt er ihr die Handtasche, die er zuhause im Wäschekorb versteckt. Als Simone durch ein klingelndes Handy auf die Tasche aufmerksam wird und Jonas zur Rede stellt, gibt er vor, sie gefunden zu haben. Der Vorfall treibt einen Keil in die Beziehung, Jonas wendet sich seiner Kollegin Laura (Luna Wedler) zu, die anfangs geschmeichelt ist, ihm dann aber die kalte Schulter zeigt, als sie von seiner Freundin erfährt. Seine innere Unruhe kann Jonas fortan nur dann kurzfristig zähmen, wenn er einsame Frauen, denen er beim Laufen begegnet, überfällt, wobei er zu immer drastischeren Methoden greift …
In Hollywood würde die Geschichte von Mischa Ebner sicher zu einem Psycho-Schocker mit passender dramatischer Musikuntermalung und schaurigen Effekten verarbeitet werden. Hannes Baumgartner verzichtet in seinem Spielfilmdebüt jedoch auf jeglichen inszenatorischen Schnickschnack und sogar auf die dramaturgische Verstärkung durch eine zusätzliche Musikspur. Stattdessen fokussiert er sich ganz auf seinen Protagonisten, der von Max Hubacher („Der Hauptmann“) sehr eindringlich verkörpert wird. Dass die Brüder Philipp und Jonas früh von ihren leiblichen Eltern getrennt wurden, wird eingangs nur in einem Satz erwähnt, aber nicht weiter erklärt. Auch später dienen nur einzelne Rückblicke und Alpträume dazu, die besonders innige Beziehung zwischen den beiden Brüdern und vor allem Jonas‘ Trauma zu thematisieren, das durch Philipps Suizid hervorgerufen worden ist. Davon abgesehen vermeidet „Der Läufer“ weiterführende Erklärungen und psychologisch tiefergehende Betrachtungen der Beziehungen, die Jonas in seinem Leben unterhält. Von der Pflegemutter (Sylvia Rohrer), die nach und nach Philipps Sachen weggibt, bekommt der Zuschauer nicht mehr zu hören, als dass sie immer für Jonas da sei. Ansonsten wird bei den gemeinsamen Essen, an denen auch Simone teilnimmt, wenig gesprochen, selbst als die Reihe von Überfällen von den Medien aufgegriffen wird und die Pflegemutter und Simone ahnen müssen, dass Jonas hinter den Vorfällen stecken könnte.
So fokussiert sich die Geschichte ganz auf Jonas, auf seine Alltagsroutine, sein Training, seine wachsende Isolation. Angesichts der Taten gegenüber den wehrlosen Frauen sollte man nur Abscheu dem dafür verantwortlichen Täter empfinden, doch Baumgartner und Hubacher gelingt es, die zutiefst tragische Dimension des entwurzelten und verstörten Mannes herauszustellen, der seine Taten aufrichtig zu bereuen scheint und den Opfern mit einem Entschuldigungsbrief ihre Dokumente wieder zurückschickt. So eindringlich das Psychogramm des Täters auch inszeniert und gespielt ist, so sehr der Zuschauer Jonas auch selbst als Opfer begreift, bleibt Jonas‘ soziales Umfeld doch blass. Da gewinnt die Kochgehilfin Laura in ihren weitaus reduzierteren Szenen mehr Profil als Jonas‘ Freundin Simone, der es nicht gelingt, tiefer in die Seele ihres Freundes einzudringen, und nur hin und wieder einige ohnmächtige Tränen weint. Das Arbeitsumfeld wird ganz auf die Kochgehilfin Laura reduziert, und selbst der Trainer und der behandelnde Physiotherapeut bleiben auf ihre jeweilige Funktion beschränkt und somit bloße Schablonen. So fasziniert „Der Läufer“ zwar als eindringliches psychologisches Drama, das durchaus Sympathien oder wenigstens Verständnis für den Protagonisten weckt, bleibt in den Beziehungen, die Jonas zu seiner sozialen Umwelt unterhält, allzu unbestimmt.
"Der Läufer" in der IMDb

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