Der Würgeengel

Obwohl Luis Buñuel 1961 mit „Viridiana“ einen internationalen Erfolg feiern konnte (der mit einem Skandal im katholischen Spanien einherging), gelang es dem Filmemacher nicht, für sein nächstes Projekt genügend Geld aufzutreiben, um ihn in Europa mit europäischen Schauspielern drehen zu können. Doch die in Schwarzweiß in Mexiko gedrehte Gesellschaftsfarce „Der Würgeengel“ (1962) verfehlt auch unter weniger professionellen Bedingungen nicht seine Wirkung und zählt zu Buñuels besten Werken. 

Inhalt: 

Nach einem gemeinsam besuchten Opernball lädt der wohlhabende Bürger Nobile (Enrique Rambal) seine Gesellschaft zu einer Soiree in die Villa, die er mit seiner Ehefrau Lucía (Lucy Gallardo) bewohnt. Die Hausherrin hat zur Überraschung ihrer Gäste einen kleinen Bären und ein paar Schafe in einem Zimmer versteckt, die im weiteren Verlauf des Abends ihren Einsatz bekommen sollen. Bei der Ankunft der Gesellschaft hat ein Großteil der Dienerschaft das Haus allerdings schon mit fadenscheinigen Gründen verlassen, die zwei zuletzt verbliebenen Diener verabschieden sich direkt vor dem Essen von ihrer Arbeitgeberin, wohl wissend, dass sie ihre Anstellung damit verloren haben. 
Einzig der Majordomus Julio (Claudio Brook) hält bis zuletzt die Stellung, doch ist er mit fortschreitender Stunde auch am Ende mit seinem Latein, denn die Gäste machen überhaupt keine Anstalten, das Haus zu verlassen. 
Obwohl kein physisches Hindernis vorliegt, scheint die gut 20-köpfige Gesellschaft vor einer unsichtbaren Barriere im Salon der Nobiles festgehalten zu werden. Die Gastgeber staunen nicht schlecht, dass sich ihre Gäste einfach auf den Sofas und dem Boden ihr Nachtlager einrichten, doch als am kommenden Morgen noch immer kein Weg nach draußen gefunden wird, vergisst die Gesellschaft nach und nach ihre guten Manieren. 
Als auch das Essen und die Getränke aufgebraucht sind, setzt sich zunehmend das Gesetz des Stärkeren durch. Der besonnene Arzt Dr. Carlos Conde (Augusto Benedico) versucht einem sterbenden alten Mann, einer schwer krebskranken Frau und den Menschen beizustehen, die sich unter den Umständen sehr schwach fühlen, doch wird das Verhalten der Gäste untereinander immer aggressiver… 

Kritik: 

Eigentlich wollte Buñuel seinen Film „Die Schiffbrüchigen von der Straße der Vorsehung“ betiteln, doch als der Autor José Bergamín sein geplantes Stück mit dem Titel „El ángel exterminador“ (dt. „Der Würgeengel“) aufgegeben hatte, übernahm der Regisseur den Titel für seinen Film. 
„Der Würgeengel“ entstand nach Buñuels Mexiko-Phase, denn der Regisseur kehrte 1960 nach Spanien zurück, wo ihm Produzent Gustavo Alatriste sämtliche Freiheiten bei der Filmarbeit versprochen hatte, worauf Buñuel mit „Viridiana“ ein Drehbuch nach seinem eigenen Geschmack entwickelte. Der nachfolgende Skandal zwang Buñuel dazu, seine nächsten beiden Werke „Der Würgeengel“ und „Simon in der Wüste“ wieder in Mexiko zu drehen. 
Mit „Der Würgeengel“ widmet sich Buñuel wieder seinen Lieblingsthemen, der genüsslichen Demontage bürgerlicher und kirchlicher Konventionen, die den Menschen in ein Korsett zwingen, aus dem sie schwer ausbrechen können. 
In „Der Würgeengel“ wird dieser goldene Käfig durch eine unsichtbare Barriere symbolisiert, die witzigerweise weder die Gesellschaft im Hause, noch die Polizei, Schaulustigen und Verwandten draußen durchdringen können. Auch wenn die Dienerschaft aus dem Hause geflohen ist und einer der Bediensteten beim Servieren der Horsd’œuvre stolpert und die kleinen Häppchen über den Teppich verteilt, können die Gäste nur lachen. Gespräche und Handlungen wiederholen sich unbemerkt, Hauptsache die guten Sitten bleiben gewahrt. 
Buñuel demonstriert genüsslich, wie durch den ungeplant verlängerten Zwangsaufenthalt die wohlanständigen Bürger ihre Fassade aufgeben müssen und sich im Kampf um die lebenswichtigsten Bedürfnisse schließlich den einfachen Menschen annähern, für die sie nur Verachtung übrig haben. Es wird um Wasser gekämpft, Männer wollen ihren Sexualtrieb befriedigen, wertvolle Entdeckungen wie ein Vorrat an Morphium und Schmerzmitteln werden geheim gehalten. Buñuel würzt seine Geschichte mit surrealistischen Elementen wie einer einzelnen Hand, die sich durch die Szenerie bewegt, und wilde Träume, die die Besucher in der Nacht heimsuchen, aber vor allem zeigt er eindrucksvoll auf, wie die oberflächlichen Verhaltensweisen des gehobenen Bürgertums zerbröckeln, wenn die Akteure in Extremsituationen um ihr Leben kämpfen müssen. 
Die Religion bekommt schließlich in der Schlussszene ihr Fett weg, wenn die Gesellschaft im anschließenden Gottesdienst ein Déjà vu der besonderen Art erlebt. 

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