Der falsche Mann

Bereits in früheren Filmen hat Alfred Hitchcock immer wieder seine Skepsis gegenüber dem Justizsystem thematisiert und die ermittelnden Polizisten oft als unfähig präsentiert. Besonders deutlich kommt seine Einstellung in dem einzigen von Hitchcocks Werken zum Tragen, das auf wahren Begebenheiten beruht. Für „Der falsche Mann“ (1956) verzichtete Hitchcock nicht nur auf seinen üblichen Cameo-Auftritt (stattdessen spricht er zu Beginn zum Zuschauer, dass er in diesem Film nicht hinzugefügt oder beschönigt habe), sondern auch auf jedwede humorvolle Einlage, so ernst war ihm das Thema des – wieder einmal – unschuldig verfolgten Mannes.
Christopher Emmanuel „Manny“ Balestrero (Henry Fonda) verdient den Lebensunterhalt für sich, seine Frau Rose (Vera Miles) und die beiden Söhne als Kontrabassist in einem arrivierten New Yorker Nachtclub. Das Auskommen reicht gerade, um den Alltag zu meistern und die Rechnungen zu begleichen, aber die Balestreros dürfen als glückliche Familie gelten. Die 300 Dollar umfassende Zahnarztrechnung seiner Frau zwingt Manny allerdings, die Lebensversicherung seiner Frau zu beleihen. Als er das Büro der Versicherungsgesellschaft aufsucht, glaubt die Mitarbeiterin am Empfang in Manny den Mann zu erkennen, der vor kurzem das Büro überfallen hat, und wendet sich an zwei ihrer Kolleginnen und schließlich an die Polizei. Vor seiner Haustür wird Manny von der Polizei verhaftet, verhört und schließlich dazu aufgefordert, durch zwei Läden zu gehen, in der der gesuchte Mann ebenfalls Raubüberfälle begangen haben soll. Auch bei der anschließenden Gegenüberstellung bei der Polizei wird Manny von den Versicherungsangestellten und Ladeninhabern als mutmaßlicher Täter identifiziert.
Manny kommt in Untersuchungshaft, doch stellt sein Schwager Gene Conforti (Nehemiah Persoff) die 7.500 Dollar Kaution, so dass Manny mit der Unterstützung seines Anwalts Frank O’Connor (Anthony Quayle) nun Zeit hat, seine Unschuld zu beweisen. Er erinnert sich, am Tag des Verbrechens Karten mit drei Männern gespielt zu haben, doch zwei der Männer sind mittlerweile verstorben, der dritte ist nicht aufzufinden. Rose beginnt an der Unschuld ihres Mannes zu zweifeln und verfällt zunehmend dem Wahnsinn …
Nachdem Hitchcock für Warner Bros. zwischen 1949 und 1953 die vier Filme „Die rote Lola“, „Der Fremde im Zug“, „Ich beichte“ und „Bei Anruf Mord“ realisiert hatte und mit den Arbeitsbedingungen dort sehr zufrieden war, wollte er einen weiteren Film ohne Gage inszenieren. Die Geschichte von Christopher Emmanuel Balestrero, der 1953 wegen eines Raubüberfalls, den er nicht begangen hatte, vor Gericht stand, erschien zunächst im Life Magazine, wurde dann für das Fernsehen verfilmt und bot Hitchcock die Möglichkeit, seine eigene Urangst vor der Gefangenschaft in einem fast dokumentarischen Drama umzusetzen, das schonungslos aufzeigt, wie ein absolut rechtschaffener, familienliebender und unschuldiger Mann durch die Mühlen der Justiz zermürbt wird und dessen Frau darüber auch noch den Verstand verliert.
Mit Henry Fonda („Früchte des Zorns“, „Die zwölf Geschworenen“) hat Hitchcock die perfekte Besetzung für die Figur des in einfachen, aber ehrlichen Verhältnissen lebenden Mannes gefunden, der sich für das Verbrechen eines anderen vor Gericht verantworten muss. Allein sein mal ungläubiger, mal ängstlich umherhuschender Blick sagt oft mehr als Worte. Auf der anderen Seite verkörpert Vera Miles („Psycho“, „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“) glaubwürdig die Frau an seiner Seite, die sich rührend um den Haushalt und die Erziehung der Kinder kümmert, sich selbst vorwirft, zu verschwenderisch mit dem Geld zu sein, und über der Unwissenheit, was die Zukunft für ihren Mann und ihre Familie bringt, zerbricht.
Hitchcock strebte nach möglichst naturgetreuer Darstellung, drehte an Originalschauplätzen, sprach mit dem Richter und zuständigen Strafverteidiger, lernte zusammen mit Fonda und Miles auch die echten Balestreros kennen. So entstand ein zutiefst verstörendes, ungewohnt ernstes und klaustrophobisches Krimi-Drama, das in kontrastreichem Schwarzweiß von den fatalen Folgen einer polizeilichen Hetzjagd erzählt. In diesem Fall konnte Manny Balestrero von Glück sagen, dass noch während seines Prozesses der richtige Täter gefasst werden konnte. Der versöhnliche Text im Abspann mindert allerdings die dramatischen Züge des Films und ist wohl vor allem der Zensur geschuldet gewesen.
"Der falsche Mann" in der IMDb

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