Erpressung

„Erpressung“ (1929) stellt Alfred Hitchcocks Einstieg in den Tonfilm dar und nach „Der Mieter“ (1926) überhaupt erst den zweiten Film, der als typisch für spätere Hitchcock-Werke angesehen werden kann, da er einige markante stilistische Elemente präsentiert, die der Master of Suspense fortan noch verfeinern sollte. Interessant ist dabei, dass der Film noch wie ein klassischer Stummfilm beginnt und erst während der Dreharbeiten auf Ton umgestellt wurde.
Weil sich die etwas naive Alice White (Anny Ondra) von ihrem Verlobten, dem pflichtbewussten Polizeibeamten Frank Webber (John Longden), vernachlässigt fühlt, geht sie bei einem abendlichen Restaurantbesuch im Streit mit ihm auseinander und begleitet stattdessen den Maler Crewe (Cyril Ritchard) nach Hause, wo er jedoch schnell zudringlich wird und Alice sich nur noch zur Wehr setzen kann, indem sie ihren Peiniger mit einem Messer ermordet. Bei der überstürzten Flucht aus dem Atelier vergisst sie allerdings einen ihrer Handschuhe am Tatort, den am nächsten Tag ausgerechnet ihr Verlobter dort findet, der mit der Aufklärung des Verbrechens beauftragt wird.
Als er Alice mit seinem Fund, den er als Beweis unterschlägt, konfrontiert, taucht der zwielichtige Tracy (Donald Calthrop) auf, der sich in der Nähe des Tatorts befand und Alice beim Verlassen der Wohnung gesehen hat. Nun erpresst er das junge Liebespaar mit seinem Wissen und nistet sich in der Wohnung von Alices Eltern (Charles Paton, Sara Allgood) ein, die nebenan einen Kiosk betreiben. Als jedoch Crewes Hauswirtin ihre Aussage bei der Polizei macht und Tracy als Tatverdächtigen beschreibt, scheint sich das Blatt für Alice und Frank doch noch zum Guten zu wenden …
Während in Hollywood bereits seit 1927 mit Tonfilm gearbeitet wurde, zog das europäische Festland mit zwei Jahren Verzögerung langsam nach, wobei British International Pictures, für die Hitchcock „Erpressung“ inszenierte, zu den Pionieren der neuen Entwicklung zählten.
Hitchcock wusste die Neuerungen des Tonfilms gleich gut zu nutzen, am eindrucksvollsten sicher in der berühmten Szene, als Alice am Esstisch gebeten wird, mit dem Messer das Brot zu schneiden, während eine Nachbarin über den Mord erzählt und dabei immer wieder das Wort „knife“ (Messer) betont, während Alice von der Handhabung des Messers wieder so an ihre Tat erinnert wird, das sie es fallen lässt. Aber auch die Mordszene hinter dem Bettvorhang zählt zu den erinnerungswürdigen Momenten eines Thrillers, der noch viel von den bedeutungsschwangeren Gesten des Stummfilms bewahrt, aber die neuen Möglichkeiten des Tonfilms geschickt einzusetzen versteht, indem beispielsweise das dominierende Läuten der Klingel, als Tracy den Tabakladen betritt, die drohende Gefahr andeutet. Interessant ist vor allem das Verhältnis der Beteiligten zueinander und zur Schuld, die sie sich aufladen. Alice scheint zunächst ein Opfer zu sein, das aus Notwehr tötet, sich aber doch schuldig fühlt, weil sie sich auf den Flirt eingelassen und so nicht nur den Tod des Mannes provoziert, sondern auch ihren Verlobten hintergangen hat. Frank wiederum verletzt sein Pflichtbewusstsein, indem er aus Liebe zu Alice den einzigen Beweis unterschlägt und so ebenso wie Alice erpressbar wird. Tracy wiederum wirkt zunächst wie ein verschlagener Gauner, der aber mit dem Auftauchen des Umstands, dass seine Aussage gegen die eines Scotland-Yard-Beamten stehen könnte, plötzlich hilflos wirkt und ein Ende nimmt, das er so nicht verdient hat. Am Ende scheint Crewe in der Gestalt des Harlekins, den er gemalt hat und den Hitchcock auch zum Schluss groß im Bild zeigt, Frank, Alice und Tracy aus dem Grab auszulachen. So erweist sich der Master of Suspense in seinem ersten Tonfilm bereits als geschickter Konstrukteur einer packenden Kriminalhandlung und psychologisch interessant gezeichneter Figuren, zudem als Filmemacher, der die Möglichkeiten der neuen Tonebene bewusst zu gestalten versteht.
"Erpressung" in der IMDb

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