Von Angesicht zu Angesicht
In den Filmen des schwedischen Meisterregisseurs Ingmar Bergman geht es immer wieder um psychische Grenzerfahrungen, die mit (oft enttäuschter) Liebe, Hoffnung und Träumen einhergehen, mit schmerzlichen Erfahrungen, die Bergmans Figuren bereits in der Kindheit gemacht haben und die erst im Erwachsendasein an psychotischer Intensität gewinnen. So auch in seinem Spätwerk „Von Angesicht zu Angesicht“, das zunächst als Fernseh-Vierteiler konzipiert wurde und später in eine um 40 Minuten gekürzte Kinoversion umgewandelt worden ist.
Inhalt:
Die Psychiaterin Dr. Jenny Isaksson (Liv Ullmann) nutzt den längeren beruflichen Aufenthalt ihres Mannes Eric (Sven Lindberg) in den USA dazu, die gemeinsame Wohnung auszuräumen und die Zeit, bis das neue Haus bezugsfertig ist, dazu zu nutzen, bei ihren Großeltern (Aino Taube und Gunnar Björnstrand) zu wohnen, während ihre vierzehnjährige Tochter Anna (Helene Friberg) die Ferien auf einem Reiterhof verbringt, wo sie sich in einen drei Jahre älteren Jungen verliebt hat.
Während ihr Großvater bereits in eine wachsende Altersapathie dämmert und sie kaum erkennt, zeigt sich ihre Großmutter sehr fürsorglich und hat ihr ein Zimmer mit alten Möbeln aus Kindertagen eingerichtet. Bereits in der ersten Nacht wird Jenny von beängstigenden Gespenstern der Vergangenheit heimgesucht, doch dafür blüht sie bei ihrer Arbeit im Krankenhaus auf, wo sie für eine Weile den Oberarzt vertritt und einige Fortschritte mit ihrer anfangs noch sprachlosen Patientin Maria (Kari Sylwan) macht.
Als sie auf einer Party, die die etwas überdrehte Frau ihres Kollegen ausrichtet, den Arzt Dr. Tomas Jacobi (Erland Josephson) kennenlernt, steht sie kurz davor, sich auf eine Affäre mit ihm einzulassen, doch belässt sie es lieber bei einer platonischen Freundschaft. Die wird allerdings auf eine harte Probe gestellt, als Jenny ihre Patienten Maria in ihrer ehemaligen, leerstehenden Wohnung aufsucht, wo sie fast von einem jungen Mann vergewaltigt wird.
Als sie Jacobi später davon erzählt, meint sie, nur anfänglich Angst verspürt zu haben, dann die Vergewaltigung aber herbeigesehnt zu haben. Dieser Vorfall und die Abwesenheit ihrer Großeltern, die einer Einladung zu einer Reise gefolgt sind, verursachen bei Jenny hysterische Reaktionen, bis sie total verängstigt und zitternd zu viele Schlaftabletten einnimmt…
Kritik:
Wie schon bei „Wie in einem Spiegel“ (1961) hat Bergman seinen 1976 entstandenen Film vom ersten Brief des Paulus an die Korinther inspirieren lassen: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“
Bergman taucht mit seinem fast dreistündigen Fernsehdrama bzw. 135-minütigen Kinofilm tief in die Psyche der Psychiaterin Jenny ein, die in ihrer täglichen Arbeit auch mit jenen Angststörungen zu tun hat, unter denen sie später selbst leidet. Doch zunächst wird die wieder emotional vielschichtig von Liv Ullmann verkörperte Jenny als lebensfreudige Frau vorgestellt, die sich ebenso wie ihre Großmutter sehr über das Wiedersehen freut.
Dazu wirkt Jenny überaus selbstbewusst, wenn sie etwa den erotischen Avancen ihres neuen Bekannten Dr. Tomas Jacobi zuvorkommt und die Möglichkeiten erörtert, wie der Geschlechtsakt gestaltet werden könnte. Doch die fröhliche und selbstbewusste Aura bekommt während der Zeit im Haus ihrer Großeltern erste Risse, wird sie doch immer wieder von bedrückenden Erinnerungen, Halluzinationen und Alpträumen geplagt. Bergman ermöglicht seiner Protagonistin allerdings eine kathartische Erlösung, indem sie sich die Erfahrungen vom frühen Unfalltod ihrer Eltern und der harten Erziehung durch ihre Großmutter von der Seele redet. Dabei darf sie sich auf die ebenso professionelle wie fürsorgliche Unterstützung ihres Freundes Jacobi stützen, während Bergman selbst wenig Vertrauen in die Psychoanalyse zu haben scheint, wie es Jennys abgehärmter Kollege zum Ausdruck bringt.
Auch wenn es „Von Angesicht zu Angesicht“ an erzählerischer Stringenz mangeln mag, ist Bergman doch ein bewegendes Psychogramm einer starken Frau gelungen, die sich mutig ihrer schwierigen Vergangenheit stellt und über die lebensbedrohliche Krise zurück ins Leben findet.
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