Die dunkelste Stunde

Der britische Filmemacher Joe Wright hat bereits mit den Literaturverfilmungen von „Stolz & Vorurteil“ (2005), „Abbitte“ (2007) und „Anna Karenina“ (2012) eindrucksvoll bewiesen, wie lebendig er vergangene Epochen zum Leben erwecken kann. Sein Meisterwerk hingegen hat er 2017 mit dem sechsfach Oscar-nominierten Biopic „Die dunkelste Stunde“ abgeliefert, für das der gefeierte Schriftsteller Anthony McCarten („Englischer Harem“, „Die Entdeckung der Unendlichkeit“) das Drehbuch geschrieben hat und in dem Gary Oldman als Winston Churchill seine vielleicht eindrucksvollste Performance seiner Karriere abliefert.
Im Mai 1940 sieht alles nach einem vernichtenden Sieg von Hitlers Nazi-Deutschland aus. Nachdem das Deutsche Reich in kürzester Zeit die Niederlande, Belgien, Luxemburg und Norwegen eingenommen hat, steht auch Frankreich kurz vor der Kapitulation, was auch für die Briten nicht ohne Folgen bleiben wird, da das Britische Expeditionskorps in Dünkirchen, der nördlichsten Stadt Frankreichs, bereits von den Deutschen eingekesselt worden ist. Der amtierende britische Premierminister Neville Chamberlain (Ronald Pickup) muss wegen seiner zurückhaltenden Politik abdanken, doch ein Nachfolger lässt sich vor der Hintergrund der aussichtslos erscheinenden Lage nicht so leicht finden. Aus der Regierungspartei kann allein Winston Churchill (Gary Oldman) darauf zählen, auch die Opposition für sich gewinnen zu können, doch angesichts seines Gallipoli-Desasters ist nicht nur König George VI. (Ben Mendelsohn) skeptisch, was Churchills Erfolgsaussichten beim Krieg gegen die Nazis angeht. Während Lord Halifax (Stephen Dillane) und der abgesetzte Premier sich dafür stark machen, dass Churchill auf das Vermittlungsangebot von Mussolini eingeht, um die Bedingungen für Friedensgespräche mit Hitler zu verhandeln, denkt der oft cholerische Churchill nicht daran, klein beizugeben. Durch den Zuspruch seiner Frau Clemmie (Kristin Scott Thomas) und das Vertrauen, das ihm allmählich auch der König entgegenbringt, setzt Churchill mit der Operation Dynamo alles daran, die festgesetzten Briten aus Dünkirchen zu befreien …
Anthony McCarten hat mit seinen Romanen und Drehbüchern (oft zu seinen eigenen Romanen) immer wieder sein ausgeprägtes Gefühl für die Befindlichkeiten seiner Protagonisten bewiesen und sie zu sehr lebendigen Figuren auch auf der Leinwand erweckt.
Mit „Die dunkelste Stunde“ liefern er und Regisseur Joe Wright keine umfassende Churchill-Biografie ab, sondern fokussieren ihr biografisches Kriegs-Drama ganz auf die entscheidende Phase, in der sich Großbritannien ganz allein gegen das übermächtige Nazi-Deutschland behaupten muss, nachdem Churchill auch von seinen amerikanischen Kollegen Roosevelt keine Unterstützung erwarten kann. Um den cholerischen Charakter von Churchill zu demonstrieren, reicht Wright eine Szene, nämlich das Herunterputzen seiner neuen Sekretärin Elizabeth Layton (Lily James), die nach dem emotionalen Ausbruch des Premiers heulend das Weite suchen will, ehe sie von Clemmie wieder beruhigt werden kann. Doch so herrisch Churchill auch seinen Untergebenen gegenüber auftreten kann, so leidenschaftlich tritt er vor dem Parlament für seine Sache ein, nämlich Hitler die Stirn zu bieten und bis zum Umfallen, bis zum Sieg zu kämpfen, was er in seiner berühmt gewordenen Victory-Geste auch vor den Medien untermauert. Wright gelingt dabei eine wohldosierte Balance zwischen den politischen Gedankenspielen und Manövern sowie den militärischen Strategieüberlegungen auf der einen Seite und den mehr persönlichen Aspekten von Churchills Figur. Wenn er etwa erstmals in seinem Leben in die U-Bahn steigt und mit den völlig überraschten Fahrgästen ins Gespräch über die zur Verfügung stehenden politischen Optionen kommt, wenn er sich die traurige Geschichte seiner Sekretärin anhört, zu Tränen gerührt ist und sie schließlich in die geheimen Räume mitnimmt, um ihr auf einer Militär-Karte die gegenwärtige Situation der britischen Soldaten darzulegen, macht Wright seinen Protagonisten zu einem sehr einfühlsamen Menschen, der die Zuschauer nach ersten Zweifeln dann doch auf seine Seite zieht.
Dass dies so überzeugend gelingt, ist natürlich auch der grandiosen Vorstellung von Gary Oldman („León – Der Profi“, „Dracula“) zu verdanken, der unter der Maske so korpulent und alt erscheint, dass er kaum wiederzuerkennen ist. Zusammen mit seinen ebenfalls hervorragend agierenden KollegInnen, der eindringlichen Musik von Dario Marianelli („Jane Eyre“, „Lachsfischen im Jemen“) und der stilvollen Kameraarbeit von Bruno Delbonnel („Die fabelhafte Welt der Amelie“, „Inside Llewyn Davis“) entstand so ein packendes, fast kammerspielartiges Drama, das bei sechs Oscar-Nominierungen (u.a. für den besten Film und die beste Kameraarbeit) jeweils verdiente Oscars für Gary Oldman als besten Hauptdarsteller und für das beste Makeup und Hairstyling erhielt.
"Die dunkelste Stunde" in der IMDb

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