Gehetzt
Bereits mit seinem ersten Tonfilm „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ (1931) hat sich Fritz Lang auf meisterhafte Weise mit dem Justizsystem auseinandergesetzt und ein Plädoyer für die ordentliche Gerichtsbarkeit wider die Selbst- und Lynchjustiz präsentiert. Nach seiner Emigration in die USA lieferte Lang mit „Blinde Wut“ (1936) einen weiteren Beitrag zum Thema Rechtssystem und würzte ihn mit einer ordentlichen Portion Sozialkritik. Inspiriert von der tödlich endenden Jagd auf das Verbrecherpärchen Bonnie und Clyde setzte Lang mit „Gehetzt“ (1937) seine Beschäftigung mit der Auswirkung juristischer Urteile auf das Leben der Menschen gekonnt fort.
Der Kleinkriminelle Eddie Taylor (Henry Fonda) sitzt zum dritten Mal im Gefängnis und steht kurz vor der Entlassung, nachdem seine Freundin Joan Graham (Sylvia Sidney), die als Sekretärin für den Verteidiger bei Strafprozessen Stephen Whitney (Barton MacLane) arbeitet, ihren Chef dazu bringen konnte, Taylor auf Bewährung frei zu bekommen. Gefängnisdirektor Warden (John Wray) redet Taylor vor seiner Entlassung noch ins Gewissen, dass seine nächste Straftat eine lebenslange Haft zur Folge hätte, doch sowohl der Noch-Häftling selbst als auch der Gefängnis-Pfarrer Dolan (William Gargan) sind zuversichtlich, dass Taylor seinen Weg machen wird.
Tatsächlich hat ihm Whitney einen Job als Lastwagenfahrer besorgen können. Er heiratet Joan und verbringt mit ihr die Flitterwochen in einer kleinen Herberge, aus der sie allerdings am nächsten Morgen schon wieder ausziehen müssen, weil der Vermieter in einem seiner Kriminal-Magazine ein Foto des damals noch gesuchten Taylor entdeckt hat. Als Taylor seinen Job durch eigenes Verschulden verliert, wird er in Zusammenhang mit einem Banküberfall gesucht. Joan überredet ihn, sich zu stellen, schließlich habe er nichts verbrochen. Doch aufgrund eines Indizienbeweises und der Voreingenommenheit der Jury wird Taylor zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilt. Er kann Joan nicht verzeihen, dass sie mitverantwortlich für seine Verurteilung gewesen ist, bittet sie aber kurz vor seiner Hinrichtung, ihm bei einem Ausbruchsversuch zu helfen.
Nachdem er einen Selbstmordversuch vorgetäuscht hat, gelangt Taylor in eine Zelle, in der ein Revolver für ihn versteckt worden ist. So gelingt es ihm, mit dem Gefängnisarzt als Geisel bis in den Innenhof vorzudringen. Da erhält Warner die Nachricht, dass der wahre Bankräuber identifiziert worden ist und Taylor als unschuldig gilt…
Kritik:
Wie schon in „Blinde Wut“ erzählt Lang mit „Gehetzt“ die Geschichte eines nahezu mittellosen Liebespaars, wobei der Mann durch an sich unzureichende Indizien fälschlich angeklagt wird. In „Blinde Wut“ sah sich Spencer Tracy ebenso wie zuvor Peter Lorre (wobei dieser allerdings schuldig gewesen ist) in „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ einem Lynchmob gegenüber. In „Gehetzt“ wird die Verurteilung wenigstens durch ein ordentliches Gerichtsverfahren legitimiert, doch angesichts der offensichtlichen Voreingenommenheit der Jury kann auch hier nicht wirklich von Gerechtigkeit gesprochen werden.
Lang macht mit den Szenarien aller drei Filme deutlich, wie fehlbar das letztlich durch Menschen gefällte Urteil sein kann, dass jeder verdächtigt und schuldig gesprochen bzw. sogar zum Tode verurteilt werden kann. Ihm genügen ein paar Szenen, um das zunächst traute Glück von Eddie und Joan zu bebildern, Eddies Schwierigkeiten, einem geregelten Job nachzugehen, die vorschnelle Verurteilung durch die Öffentlichkeit. Obwohl Taylor seine Strafe abgesessen hat und ein freier Mann ist, gilt er in den Augen seiner Mitmenschen nach wie vor als Verbrecher und wird nach dem Bankraub gleich für alle anderen Verbrechen verantwortlich gemacht.
Henry Fonda („Früchte des Zorns“, „Die zwölf Geschworenen“) verkörpert mit Eddie Taylor den Prototypen des einsamen und stigmatisierten Protagonisten des Film noirs. Ihm steht mit Sylvia Sidneys Joan eine Frau zur Seite, die ihn bedingungslos liebt und an das Rechtssystem glaubt. Durch die unglücklichsten Zufälle gerät ihre Liebe und ihr Leben völlig aus den Fugen, lässt zurecht Zweifel an Gerechtigkeit auf Erden aufkommen.
Lang verzichtet ganz auf Szenen des Prozesses, so dass die Jury als eine unsichtbare Macht erscheint, die nach eigenem Ermessen über Leben und Tod entscheiden kann. Im packenden Finale macht Lang deutlich, welch drastische Konsequenzen leichtfertig gefällte Urteile nach sich ziehen können – auch für treuglaubende Unbeteiligte.
„Gehetzt“ gilt auch wegen seiner kontrastreichen Bildsprache als Vorläufer des Film noir, einem Genre, zu dem Lang noch etliche Werke („Du und ich“, „Ministerium der Angst“, „Straße der Versuchung“, „Heißes Eisen“ etc.) beisteuern sollte.
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