Chinesisches Roulette

Nach dem kommerziellen Misserfolg der internationalen Produktion von „Whity“ (1971) ließ sich der überaus produktive Autorenfilmer Rainer Werner Fassbinder („Angst essen Seele auf“, „Welt am Draht“) nicht beirren, lieferte weiterhin zwei bis fünf Filme pro Jahr ab und nahm 1976 mit „Chinesisches Roulette“ einen zweiten Anlauf, auch das internationale Publikum für sich zu gewinnen. Mit dem Beziehungsdrama ist ihm ein Meisterwerk gelungen, das die verlogenen Verhältnisse in bürgerlichen Familien der Nachkriegszeit thematisiert.

Inhalt:

Ariane Christ (Margit Carstensen) lauscht mit ihrer gehbehinderten Tochter Angela (Andrea Schober) andächtig einer Oper, als ihr Mann Gerhard (Alexander Allerson) mit seiner rechten Hand Kolbe (Ulli Lommel) eintrifft, diesem kurz einen Brief mit der Bitte um eine möglichst scharfe Beantwortung übergibt und sich dann auf den Weg zum Flughafen in München begibt. Doch statt wie angekündigt zu einem geschäftlichen Termin nach Oslo zu fliegen, holt er nur seine französische Geliebten Irene (Anna Karina) ab, um mit ihr auf das Schloss der Familie auf dem Land zu fahren, doch erlebt er hier eine unliebsame Überraschung, denn ebenso wie er ist auch seine Frau nicht zu ihrem Termin nach Mailand geflogen, sondern hat mit ihrem Liebhaber Kolbe die gleiche Idee gehabt, das Wochenende auf dem Schloss zu verbringen. Nach dem anfänglichen Entsetzen bricht das peinlich berührte Quartett in ironisches Gelächter aus und beschließt, das Wochenende gemeinsam auf dem Schloss zu verbringen, das von der zynischen Haushälterin Kast (Brigitte Mira) und ihrem vergeistigt wirkenden Sohn Gabriel (Volker Spengler) verwaltet wird. Als am Abend auch noch Tochter Angela mit ihrem stummen Kinderfräulein Traunitz (Macha Méril) auftaucht, entwickelt sich ein zunehmend bedrückenderes Szenario, das sich auf emotionale Explosionen zubewegt.
Während die beiden Männer eher sprachlos der Situation gegenüberstehen, überhäufen sich die Frauen gegenseitig mit Komplimenten, scheinen sich von Beginn an sympathisch zu sein. Es ist die frühreife, verbitterte Tochter Angela, die das Treiben ihrer Eltern seit Jahren durchschaut hat und nun bissig und provokant die Regie im Schloss übernimmt. Dabei zwingt sie der skurrilen Gesellschaft beim gemeinsamen Abendessen mit allen acht Anwesenden das Ratespiel „Chinesisches Roulette“ auf, bei dem die Identität einer Person im Raum aufgespürt werden muss. Während der diabolisch anmutenden Dialoge spitzt sich vor allem die unterkühlte bis feindselige Stimmung zwischen Mutter und Tochter zu, die sich schließlich gewaltsam entlädt…

Kritik:

Was auf den ersten Blick wie ein Beziehungsdrama wirkt, in dem die Heuchelei zwischen bürgerlichen Eheleuten entlarvt und bestraft wird, erweist sich bei näherer Betrachtung auch als der Konflikt zwischen der Nachkriegsgeneration und der jungen Generation, die hier ebenso durch die gehbehinderte pubertierende Angela als auch das stumme Kindermädchen repräsentiert wird. Diese beiden Figuren verkörpern die Aggression und den angestauten Frust einer zur Handlungsunfähigkeit verurteilten Generation, die erst in den 1960er und 1970er Jahren einen Weg fand, ihre Enttäuschung zu kanalisieren. Dagegen sind die von Margit Carstensen und Alexander Allerson dargestellten Eheleute ein Paradebeispiel für in ihrer Selbstgefälligkeit gefangenen Oberschicht, die ihren Selbstbetrug perfektioniert haben und insofern gelassen mit dem Betrug ihres Partners umgehen. Das ist vor der stilisierten Kulisse eines imposanten Schlosses großartig gespielt und vor allem von Michael Ballhaus oft distanzloser, virtuos umherschwebender Kamera eindringlich fotografiert, wobei Fassbinder die konzentrierte Intensität des grotesken Bühnenstücks mit farbenprächtigen Bildern einer idyllischen Natur kontrastierte. Die gelungene Komposition von Körpern und Gruppen mit Spiegelungen, Rahmungen, Fensterblicken und Türöffnungen thematisiert eindringlich, wie die Figuren mit ihren Ängsten und Sehnsüchten umgehen, die am Ende in Gewalt eskalieren.

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