Martha

Cornell Woolrich hat etliche Vorlagen für Film noirs in der 1940er und 1950er Jahren geliefert, u.a. für „Der schwarze Vorhang“, „Zeuge gesucht“, „Angst in der Nacht“, „Die Nacht hat tausend Augen“ und „Das unheimliche Fenster“, für Alfred Hitchcocks „Das Fenster zum Hof“ sowie für die Truffaut-Filme „Die Braut trug schwarz“ und „Das Geheimnis der falschen Braut“. Da mag sich der deutsche Autorenfilmer Rainer Werner Fassbinder nicht so recht wiederfinden, doch Woolrichs Geschichte „For the Rest of Her Life“ findet in dem 1974 ursprünglich fürs Fernsehen inszenierten Fassbinder-Film „Martha“ eine kongeniale Umsetzung, für die neben den beiden Hauptdarstellern Karlheinz Böhm und Margit Carstensen vor allem die famose Kameraarbeit von Michael Ballhaus verantwortlich zeichnen.

Inhalt:

Während ihres Urlaubs in Rom muss die Anfang dreißigjährige Bibliothekarin Martha Heyer (Margit Carstensen) hilflos mit ansehen, wie ihr Vater (Adrian Hoven) mit einem Herzinfarkt tot auf der Spanischen Treppe zusammenbricht. Als sie in der deutschen Botschaft die Überführung der Leiche ihres Vaters nach Deutschland regeln will, begegnet sie einem gut aussehenden Mann, den sie wenig später auf der Hochzeitsfeier von Dr. Herbert Salomon (Günter Lamprecht) als Geschäftsmann Helmut Salomon (Karlheinz Böhm) kennenlernt. Martha ist sofort von Salomons Dominanz und Charisma angetan und willigt sofort in eine Heirat ein. Doch schon auf der gemeinsamen Hochzeitsreise erweist sich Salomon als herrschsüchtiger Mann mit sadistischen Zügen. Er drängt die hellhäutige Martha dazu, möglichst schnell braun zu werden, und vergeht sich später an der stark sonnenverbrannten Frau. Wieder daheim kündigt er ohne ihr Wissen ihren Job und veranlasst gegen ihren Willen die Einweisung ihrer alkohol- und tablettenabhängigen Mutter (Gisela Fackeldey). Das Paar zieht in eine von Salomon angemietete Villa, in der sich Martha ohne Job und soziale Kontakte schnell isoliert fühlt, während ihr Mann beruflich ständig unterwegs ist. Wenn er nach Hause kommt, zwingt er seiner Frau nicht nur seinen Musikgeschmack auf und zwingt sie, sich durch Bücher mit seinem Beruf auseinanderzusetzen, sondern entwickelt beim Sex offen sadomasochistische Züge.
In Abwesenheit ihres Mannes trifft Martha Herrn Kaiser (Peter Chatel), einen ehemaligen Kollegen. Als Salomon davon erfährt, lässt er das Telefon aus dem Haus entfernen und erlaubt Martha nicht mehr, das Haus zu verlassen...

Kritik:

Fassbinder hat bereits in früheren Filmen die gesellschaftlichen Paradigmen des Bürgertums kritisch hinterfragt, doch ist er dabei selten so zynisch vorgegangen wie bei der Adaption von Cornell Woolrichs literarischen Vorlage. Bereits die zu Beginn des Films in Rom spielenden Szenen haben mehr mit Kostümfilmen der 1940er Jahre gemein als mit der Zeit, in der der Film spielt. Auf der Spanischen Treppe prallen noch Bürgertum und die Hippie-Kultur aufeinander, vor der Marthas Vater entsetzt zurückweicht, ehe er tot zusammenbricht. Martha verarbeitet den Verlust erst, als sie den Diebstahl ihrer Handtasche bemerkt. Mit ihrem Vater ist ihre einzige Bezugsperson im Leben verloren gegangen, auch wenn Martha so streng erzogen worden ist, dass sie mit Anfang dreißig noch unberührt ist und sich einzig nach Berührungen ihres Vaters gesehnt hat, der sie ihr jedoch nicht gewähren wollte. In dieses Vakuum stößt Helmut Salomon, und die ikonische 360°-Kamerabewegung, die Michael Ballhaus bei der ersten Begegnung zwischen Martha und ihrem zukünftigen Gatten einsetzt, knüpft ohne Worte das Band zwischen ihnen. Martha versucht alles, ihrem Mann alles recht zu machen, lässt sich auf jede erdenkliche Weise erniedrigen und „erziehen“. Dabei legt Helmut nie Hand an sie, erweist sich allenfalls als „hemmungsloser“ Liebhaber, wie Marthas Freundin (Barbara Valentin) beim Blick auf die Bissspuren an Marthas Hals attestiert. Fassbinder inszenierte „Martha“ mit gewohnt starr wirkenden Figuren und landete besonders in der Besetzung von Karlheinz Böhm aus den „Sissi“-Filmen einen interessanten Coup: Böhm gelang in der Rolle eines Frauenmörders in Michael Powells „Peeping Tom – Augen der Angst“ (1960) ein Imagewechsel, den Fassbinder geschickt auszunutzen verstand.

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