Das Fenster zum Hof

Bereits vor seinem Meisterwerk „Das Fenster zum Hof“ (1954) hatte sich Alfred Hitchcock den Ruf als „Master of Suspense“ erworben, aber bis heute gilt der Beginn seiner fruchtbaren Zusammenarbeit mit Paramount als die Quintessenz seiner Werksbiografie. Die literarische Vorlage, einer Kurzgeschichte von Cornell Woolrich, ergänzte Hitchcock um eine Liebesgeschichte, nutzte sie aber auch zur Ausschmückung eines seiner Lieblingsthemen, nämlich seine Skepsis gegenüber romantischen Beziehungen und der Isolation des Individuums.
Nach einem Unfall sitzt der Pressefotograf L. B. „Jeff“ Jeffries (James Stewart) schon seit Wochen in seinem kleinen 2-Zimmer-Apartment in Greenwich Village mit einem eingegipsten Bein im Rollstuhl und vertreibt sich die Zeit damit, seine mit eigenen Spitznamen versehenen Nachbarn auf der anderen Seite des Innenhofs zu beobachten, die verzweifelten Bemühungen der alternden Jungfer „Miss Lonelyhearts“ (Judith Evelyn), sich auf ein so innig ersehntes Rendezvous mit einem Mann vorzubereiten, die Anstrengungen eines oft stark alkoholisierten „Songwriters“ (Ross Bagdasarian), ein neues Lied zu komponieren, die Tanzübungen der leicht bekleideten „Miss Torso“ (Georgine Darcy) oder die heruntergelassenen Jalousien eines frisch verheirateten Ehepaars.
Etwas Abwechslung in seinen erzwungenen Spanneralltag bringen seine Krankenschwester Stella (Thelma Ritter) und Jeffs Verlobte, die bei einem Modemagazin arbeitende Lisa (Grace Kelly), die gern schöne Kleider trägt und sich eine innigere Beziehung zu Jeff wünscht. Doch gerade als Jeff Argumente gegen Lisas Heiratswünsche hervorzubringen versucht, glaubt er, einen Mord beobachtet zu haben: Nach dem Schrei einer Frau, beobachtet er den Handelsvertreter Thorwald (Raymond Burr), der seine bettlägerige Frau (Irene Winston) pflegt, wie er mitten in der Nacht mehrmals mit seinem Warenkoffer das Haus verlässt, während die Jalousien im Schlafzimmer zugezogen sind. Als Jeff auch noch sieht, wie der Verdächtige eine Säge und ein Messer in Zeitungspapier einwickelt, scheint die Sache klar zu sein, und Jeff informiert seinen Freund, den Detektiv Thomas J. „Tom“ Doyle (Wendell Corey), aber weder er noch Lisa schenken seinen Befürchtungen Glauben. Erst als Lisa beobachtet, wie Thorwald einen Schrankkoffer verschnürt, betrachtet sie Jeffs Mordtheorie mit anderen Augen …
Eigentlich handelt Woolrichs Kurzgeschichte „It Had to Be Murder“ nur von Jeffries‘ Beobachtungen in dem gegenüberliegenden Apartment und seinem daraus resultierenden Mordverdacht. Hitchcock hat dieser Kerngeschichte genau jene Elemente hinzugefügt, die in seiner eigenen Persönlichkeit tief verwurzelt sind, nämlich zum einen die tiefe Skepsis gegenüber einer glücklichen Beziehung zwischen Mann und Frau, zum anderen die Isolation des Einzelnen selbst in einer Nachbarschaft, in der jeder ein freundliches Wort für den anderen haben oder seine Hilfe anbieten sollte. In einer besonders eindringlichen Szene stößt die im obersten Stockwerk wohnende Frau, die ihren kleinen Hund für sein kleines Geschäft immer mit einem Körbchen in den Innenhof hinunterlässt, eines Nachts einen fürchterlichen Schrei aus und beklagt sich über die Gemeinheit, einen so lieben Hund, der alle Nachbarn gemocht hat, zu erwürgen.
Hier macht Hitchcock ganz deutlich, dass auch in der wohlanständigen Nachbarschaft eines so reizenden Viertels wie Greenwich Village ganz niederträchtige Neigungen verbreitet sind. Die Ausweitung des ursprünglichen Figuren-Set-ups der Kurzgeschichte auf die Nachbarschaft dient Hitchcock vor allem dazu, die von Verzweiflung getriebenen Versuche des Einzelnen einzufangen, Zuneigung und Liebe zu erfahren. Während Miss Lonelyhearts einen imaginären Gast in ihrem Apartment bewirtet, lässt sich die ebenfalls alleinlebende Miss Torso gleich von mehreren jungen Männern umgarnen. Aber auch die Beziehung zwischen Jeff und Lisa passt in dieses Schema. Während die stets adrett gekleidete, in den besten Gesellschaftskreisen verkehrende Lisa sich nach einer tieferen Bindung zu dem abenteuerlustigen Fotografen sehnt, lenkt Jeff durch seinen Voyeurismus von dieser Auseinandersetzung ab und zieht damit auch den Zuschauer unmittelbar ins Geschehen. Das funktioniert stets nach dem gleichen Schema: Wir sehen Jeff, wie er etwas beobachtet, dann erblickt der Zuschauer durch Jeffs Kameraobjektiv oder Fernglas das, was Jeff sieht, und schließlich die dadurch erzeugte Reaktion in Jeffs Gesicht. Damit thematisiert Hitchcock ein zutiefst menschliches Bedürfnis, am Leben anderer Menschen teilzuhaben, ähnlich wie sich ein Kinogänger in die Figuren auf der Leinwand hineinversetzt. Aber auch die Beziehung zwischen Jeff und Lisa ist interessant herausgearbeitet und beschreibt überzeugend das Anziehen und Wegstoßen zwischen zwei Menschen. Besonders in der Szene, als Lisa sich mit ihrem wunderschön in Großaufnahme zu sehenden Gesicht zu dem schlafenden Jeff hinabbeugt, um ihn wachzuküssen, ist Jeff nach dem Aufwachen vor allem daran interessiert, was sich in der Thorwald-Wohnung abspielt. Hier erweist sich Hitchcock einmal mehr als Meister der Spannung, denn während Jeffs Nickerchen hat der Zuschauer einen Wissensvorsprung gewonnen, und gespannt erwartet dieser Jeffs Reaktion, wenn er ebenfalls auf dieses Wissen stößt. Vor allem steigt die Spannung, als Jeff Lisa als Abenteuer-Gefährtin gewonnen hat und sie sich in die Wohnung des vermeintlichen Mörders aufmacht. Ebenso hilflos wie Jeff in seinem Rollstuhl ist auch der Zuschauer, wenn es mit Jeffs Augen mitansehen muss, wie seine geliebte Lisa in die Hände des verdächtigen Nachbarn gerät. Dass die Spannungsdramaturgie so perfekt funktioniert, liegt auch in Hitchcocks unnachahmlicher Fähigkeit begründet, Geschichten nur mit Bildern zu erzählen. Wenn er zu Beginn mit der Kamera über die Fassaden des Innenhofs schwenkt und schließlich von Jeffs schwitzendem Gesicht zu seinem eingegipsten Bein hinabfährt, über die eingerahmten Bilder von Unfällen, Magazintitelseiten, dem Foto einer Frau und einer zerstörten Kamera, sind Beruf, Lebenssituation und Schicksal des Protagonisten bereits umrissen, ohne dass ein Wort gefallen wäre.
James Stewart verkörpert einmal mehr den typischen Durchschnittsamerikaner, Grace Kelly die leidenschaftliche, temperamentvolle Schöne, und Hitchcock macht zunächst sehr deutlich, dass die beiden eigentlich nicht zusammenpassen. Während sie von Liebe und Heirat reden will, interessiert er sich nur für das Verbrechen und wird stellvertretend für uns zum zwanghaften Voyeur, der mehr an den Schicksalen anderer Menschen teilnehmen als an der Lösung seiner eigenen Probleme mitwirken möchte. Ähnlich wie in „Das Rettungsboot“, „Bei Anruf Mord!“ und „Cocktail für eine Leiche“ beschränkt sich Hitchcock wieder auf ein in sich abgeschlossenes Set, verstärkt die Einbeziehung des Zuschauers in das Geschehen aber durch den voyeuristischen Aspekt und facht so die Neugier des Publikums an. So vereint Hitchcock in „Das Fenster zum Hof“ absolute Perfektion in der filmischen Inszenierung, in der Spannungsdramaturgie und der Verknüpfung des Filmgeschehens mit der Neugierde des Zuschauers.
"Das Fenster zum Hof" in der IMDb

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