Der zerrissene Vorhang

Es ist wohl dem Auseinanderbrechen seines eingespielten Teams zuzuschreiben, dass Alfred Hitchcock nach den Höhepunkten seiner Karriere mit Filmen wie „Das Fenster zum Hof“, „Über den Dächern von Nizza“, „Der Mann, der zuviel wusste“, „Vertigo – Aus dem Reich der Toten“, „Der unsichtbare Dritte“, „Psycho“ und „Die Vögel“ Mitte der 1960er Jahre nicht mehr an die Qualität früherer Meisterwerke anknüpfen konnte, denn nach „Marnie“ (1964) verstarben nicht nur Cutter George Tomasini und Kameramann Robert Burks, sondern überwarf sich Komponist Bernard Herrmann mit Hitch, weil das Studio statt der Thriller-typischen Musik, die Herrmann für die Titelsequenz vorschwebte, poppige Klänge haben wollte. Letztlich bedeutete „Der zerrissene Vorhang“ (1966) zwar eine Rückkehr des Regisseurs zum Genres des Spionage-Thrillers, doch kommt bei dem Film nicht die gewohnte Spannungserzeugung des Meisters zum Tragen.
Der amerikanische Raketenwissenschaftler Michael Armstrong (Paul Newman) ist mit seiner Assistentin und Verlobten Sarah Sherman (Julie Andrews) zu einer Konferenz nach Kopenhagen unterwegs, als er plötzlich bekanntgibt, dass er nach Stockholm fliegen muss. Sarah ist dermaßen überrascht von Michaels Verhalten, dass sie am Ticketschalter im Hotel nachfragt und erfährt, dass ihr Verlobter statt nach Stockholm nach Ost-Berlin fliegt. Kurzerhand nimmt sie den selben Flieger und beobachtet nach der Landung in Berlin-Schönefeld, wie Michael von Heinrich Gerhard (Hansjörg Felmy), dem Leiter des Staatssicherheitsdienstes, der Politiker-Elite und der Presse mit Freuden empfangen wird. Armstrong, der in seiner Heimat an dem Raketenabwehrsystem GAMMA 5 gearbeitet hatte, will der nuklearen Bedrohung ein Ende setzen und mit dem Osten sein Wissen teilen. Doch sein ostdeutscher Kollege Professor Gustav Lindt (Ludwig Donath) stellt schnell fest, dass Armstrong über kein weiterreichendes Wissen verfügt und offensichtlich seine eigene Agenda verfolgt …
Das deutsche Publikum durfte sich freuen, in dem 1966 von Altmeister Alfred Hitchcock inszenierten Spionage-Thriller-Drama „Der zerrissene Vorhang“ eine feine Riege deutscher Kinostars bewundern zu können, neben dem als Stasi-Chef agierenden Hansjörg Felmy („Buddenbrooks“, „Der Henker von London“) vor allem Wolfgang Kieling („Die Banditen vom Rio Grande“, „Duell vor Sonnenuntergang“) als Armstrongs Aufpasser und Günter Strack („Das Wunder des Malachias“, „Maigret und sein größter Fall“) als deutscher Wissenschaftler.
Bei der Auswahl seiner Hauptdarsteller tat sich Hitchcock allerdings schwer, denn Hollywood-Star Paul Newman („Exodus“, „Haie der Großstadt“) nimmt man die Rolle des Physikers, der auf eigene Faust im Ostblock nach der Formel sucht, die seine eigene Forschung voranbringen soll, nicht besonders überzeugend. Und Musical-Star Julie Andrews („Mary Poppins“, „Meine Lieder, meine Träume“) ist ganz weit davon entfernt, das unterkühlte Sex-Appeal von Hitchcocks blonden Schönheiten wie Grace Kelly, Vera Miles, Tippi Hedren oder Ingrid Bergman auszustrahlen.
Trotz der wenig überzeugenden Chemie zwischen Newman und Andrews thematisiert Hitchcock in „Der zerrissene Vorhang“ einmal mehr die Krise einer Beziehung, bevor es zum vermeintlichen Happy End kommt, aber wie bei Hitchcock so üblich, lässt sich kaum behaupten, dass das Paar nun sicher sein kann, glücklich bis ans Ende seiner Tage leben zu dürfen. Bis dahin macht uns der Regisseur wieder einmal zum Komplizen, wenn er die Geschichte erst aus Shermans, dann aus Armstrongs Perspektive erzählt, bis sich aus den jeweils subjektiven Sichtweisen eine gemeinsame objektive herauskristallisiert und die Spannung dadurch aufrechterhalten wird, dass das amerikanische Paar vor der Stasi flieht. Doch bei über zwei Stunden Laufzeit weist „Der zerrissene Vorhang“ nicht nur etliche Längen auf, (beispielsweise in einem Kaffeehaus, in dem die Gräfin Kuchinska (Lila Kedrova) die beiden Amerikaner minutenlang darum bittet, als Bürgen für ihre Ausreise in die USA zu dienen) sondern verschiedene Produktionsfehler, die darauf zurückzuführen sind, dass Hitchcock wegen des knapp bemessenen Budgets (dessen Großteil für die Gage von Newman und Andrews draufging) viele Szenen, die in Berlin, Stockholm und Kopenhagen spielen, auf dem Universal-Studiogelänge drehen musste und dafür mit Rückprojektionen von Material arbeitete, dass sein Kamerateam ihm aus Europa zukommen ließ.
Im Gedächtnis dürfte aber die ebenfalls sehr lange Szene bleiben, in der Armstrong mit Hilfe einer Bäuerin auf einem entlegenen Bauernhof Gromek umbringt. Hier lag Hitchcock vor allem daran zu zeigen, wie schwierig es ist, einen Menschen umzubringen. Auch wenn Hitchcock seinen Zenit Mitte der 1960er Jahre überschritten hatte, ist ihm mit „Der zerrissene Vorhang“ ein Spionage-Drama gelungen, das trotz ungewöhnlich vieler Schwächen noch großen Unterhaltungswert besitzt, vor allem wegen der gut aufgelegten deutschen Darsteller und einigen gelungenen Spannungssequenzen.
"Der zerrissene Vorhang" in der IMDb

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