Marnie

Alfred Hitchcock hatte schon früher mit „Rebecca“ (1940) und „Ich kämpfe um dich“ (1945) psychologische Themen aufgegriffen, aber vor allem in den 1960er Jahren mit „Psycho“ (1960), „Die Vögel“ (1963) und schließlich „Marnie“ (1964) seine Faszination für das Reich des Unbewussten ausgespielt. Nach „Die Vögel“ war „Marnie“ auch schon die letzte Zusammenarbeit zwischen Hitchcock und Tippi Hedren, die er eigentlich zu seinem neuen Star aufbauen wollte und für fünf Filme verpflichtete, doch rebellierte Hedren gegen die übermächtige Kontrolle, die der Regisseur über sie ausüben wollte, und sprach am Ende kein Wort mehr mit ihm.
Nachdem die Kleptomanin Marnie Edgar (Tippi Hedren) den Steueranwalt Sidney Strutt (Martin Gabel) um knapp 10.000 Dollar erleichtert hat, kleidet sie sich neu ein, bleicht ihre Haare und bewirbt sich unter einer neuen Identität bei dem wohlhabenden Witwer und Verlagsinhaber Mark Rutland (Sean Connery), einem von Strutts wichtigsten Klienten. Vorher reitet sie allerdings auf ihrem Lieblingspferd Feurio auf einer Ranch in Virginia aus und besucht ihre gehbehinderte Mutter (Louise Latham) in Baltimore, der sie wie immer ein teures Geschenk mitbringt, aber letztlich das Gefühl vermittelt bekommt, dass ihrer Mutter die kleine Nachbarstochter, auf die sie aufpasst, lieber ist als ihre eigene Tochter.
Obwohl Rutland Marnie bereits bei Strutt begegnet ist und in ihr die Diebin vermutet, ist er neugierig geworden und stellt sie ein. Um ihr Vertrauen zu gewinnen, fährt er mit ihr zu einem Pferderennen nach Albany und stellt sie seiner Familie vor. Als er Marnie bei ihrem nächsten Raubversuch überrascht, übergibt er sie nicht der Polizei, sondern zwingt sie zur Heirat, nicht ahnend, dass Marnie eine fürchterliche Angst vor Männern hat. Rutland versucht, seiner Frau zu helfen, nutzt ihre Hilflosigkeit aber auch schamlos aus. Nachdem sich die verzweifelte Marnie während der Hochzeitsreise im Swimming Pool des Kreuzfahrtschiffes zu ertränken versucht hat, besucht Rutland mit Marnie ihre Mutter, weil er ahnt, dass Marnies Probleme dort ihre Wurzeln haben …
Schon zu Beginn von „Marnie“ begegnen uns allzu vertraute Hitchcock-Elemente, der Bahnsteig als Symbol für eine Reise ins Ungewisse, eine Frau, die scheinbar mühelos ihre Identitäten wechselt und das Spiel von Schein und Sein perfekt beherrscht. Schon bald wird klar, dass Marnie nicht nur eine Diebin aus Leidenschaft ist, sondern tiefliegende Probleme hat. Die Farbe Rot löst bei ihr ebenso Unbehagen aus wie Gewitter und das Klopfen an Wänden oder Türen, außerdem lässt sie sich nicht von Männern berühren. Doch Hitchcock thematisiert in seiner Adaption des Romans „Marnie“ von Winston Graham nicht nur Marnies psychische Probleme, sondern – wenn auch in geringerem Maße – auch die fetischistische Liebe, die Rutland der kühlen blonden Schönheit entgegenbringt. Immer wieder nimmt Rutland eine distanzierte, beobachtende Haltung ein, als würde er sein Interesse an der Zoologie, an den kriminellen Instinkten unserer animalischen Vorfahren einfach auf Marnie anwenden wollen. Gleichzeit nutzt er seine Machtposition Marnie gegenüber aus, zwingt sie nicht nur zur Heirat, sondern vergewaltigt sie auch, worauf sich Marnie schließlich umbringen will.
Bis zuletzt lässt Hitchcock offen, ob bei Rutland das wissenschaftliche Interesse oder seine fetischistische Liebe überwiegt. Ein Happy-End gibt es natürlich nicht. Auch in einer anderen Beziehung demonstriert Hitchcock, dass eine romantische Liebe nicht funktioniert. Rutland könnte die Schwester seiner verstorbenen Frau haben, denn Lil (Diane Baker) lässt keinen Zweifel daran, dass sie Rutland liebt, wird aber von ihm zurückgewiesen, sodass sie ihre Kräfte einsetzt, um Marnie zu diskreditieren, indem sie Strutt zur einer Feier auf dem Familienanwesen einlädt.
„Marnie“ erreicht nicht die Klasse von „Psycho“ oder „Die Vögel“, markiert aber in vielerlei Hinsicht das Ende einer Ära, nämlich sowohl Hitchcocks langjährige Zusammenarbeit mit Kameramann Robert Burks, der bei einem Wohnungsbrand ums Leben gekommen ist, und Komponist Bernard Herrmann, nachdem das Studio seinen Score zum nächsten Hitchcock-Film „Der zerrissene Vorhang“ abgelehnt hatte. Sean Connery hatte zuvor gerade erst seinen Durchbruch als James-Bond-Darsteller in „James Bond 007 jagt Dr. No“ und „James Bond 007 – Liebesgrüße aus Moskau“ gefeiert, doch wirkt seine Verkörperung des teils recht fürsorglich agierenden Rutland recht hölzern.
"Marnie" in der IMDb

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