Willkommen in Marwen

Robert Zemeckis hat bereits mit seinen Motion-Capture-Animationsfilmen „Der Polarexpress“, „Die Legende von Beowulf“ und „Disneys Eine Weihnachtsgeschichte“ ein Faible für moderne Erzählformen im Kino zu Schau gestellt und schien so der ideale Kandidat zu sein, die wahre Geschichte von Mark Hogenkamp als Spielfilm umzusetzen, nachdem bereits Jeff Malmberg 2010 seine Dokumentation „Marwencol“ dem Schicksal des talentierten Illustrators widmete, der als 38-Jähriger von fünf teils rechtsradikalen Männern fast totgeprügelt und -getreten wurde und sein Trauma auf eine besonders kreative Weise verarbeitete. „Willkommen in Marwen“ stellt dabei eine ungewöhnliche Mischung aus Trick- und Realfilm dar, die durchaus gewöhnungsbedürftig, aber überzeugend ausgefallen ist.
Als der begabte Comic-Illustrator Mark Hogenkamp (Steve Carell) vor Jahren von fünf Männern fast zu Tode geprügelt und getreten wurde, weil er im angetrunkenen Zustand zugegeben hatte, gern Frauenschuhe zu tragen, änderte sich sein Leben von Grund auf. Er musste nicht nur wieder zusammengeflickt werden und mühsam und unter Schmerzen Laufen und Sprechen lernen, sondern hat jede Erinnerung an sein Leben vor dem Überfall verloren. Um seine Angstzustände in den Griff zu bekommen, nimmt er mehr Psychopharmaka, als ihm der Arzt verschrieben hat, aber der eigentliche Kern seiner Therapie besteht in dem Miniaturmodell, das Mark in seinem Garten von dem belgischen Dorf Marwen zur Zeit des Zweiten Weltkriegs darstellt.
In ihm stellt er verschiedene Szenen nach, die sein Puppen-Alter-Ego Captain Hogie in der nicht enden wollenden Konfrontation mit den Nazis erlebt, wobei ihm eine Truppe von kampflustigen Amazonen zur Seite steht, und fotografiert sie ab. Doch während sich in Marks Fantasiewelt die Dinge nach einem vertrauten Schema entwickeln, steht Mark im richtigen Leben vor einigen Herausforderungen: So steht nicht nur die Urteilsverkündung im Prozess gegen Marks fünf Peiniger an, zu der ihn sein Anwalt (Court Coates) unbedingt im Gerichtssaal sehen möchte, sondern auch eine Ausstellung mit seinen Fotografien. Dabei hat Mark schon Schwierigkeiten, sich mit seiner neuen Nachbarin Nicol (Leslie Mann) anzufreunden …
Wenn Captain Hogie als deutlich erkennbare Puppe zu Anfang in seinem Flugzeug abgeschossen wird und über den Feldern in der Nähe eines belgischen Dorfes notlanden muss, fühlt sich der Zuschauer zunächst wie in einem weiteren der bisherigen im Motion-Capture-Verfahren realisierten Computer-Animationsfilme von Robert Zemeckis („Zurück in die Zukunft“, „Forest Gump“), doch nachdem die feschen Amazonen aus den Getreide aufgetaucht sind und die Nazis niedermähen, die kurz davor waren, Hogies Leben zu beenden, wird die Szene in dem Sucher einer Fotokamera festgefroren und der Übergang in die Realfilmebene vollzogen. Nach diesem temporeichen Beginn und der überraschenden Überleitung von einer Filmform in die nächste nimmt sich Zemeckis, der mit Caroline Thompson („Edward mit den Scherenhänden“, „Die Addams Family“) auch das Drehbuch verfasst hat, erst einmal Zeit, Mark Hogenkamps Schicksal zu schildern, wobei der traumatisierende Überfall immer wieder in Rückblenden thematisiert wird und die Angst vor menschlichen Kontakten in seinem übermäßigen Pillen-Konsum und panischen Fluchtattacken deutlich wird, die ihn immer wieder befallen, wenn er mit unfreundlich erscheinenden Menschen zusammentrifft. So müssen sowohl Roberta (Merritt Wever), die Inhaberin des Spielzeugladens, in dem Mark seine Puppen kauft, als auch sein Anwalt immer wieder beschwörend auf ihn einreden, dass er zur Eröffnung seiner Ausstellung bzw. zur Urteilsverkündung im Gericht erscheinen soll. Erst durch die vertrauenswürdige, sympathische Art, wie sich seine neue Nachbarin um Mark kümmert, taut der nach wie vor künstlerisch begabte Mann wieder auf.
Die einfühlsam inszenierten Realfilm-Szenen wechseln immer wieder mit turbulenten Action-Szenen in der fantasierten Parallelwelt ab, wobei vor allem die psychischen Grenzerfahrungen in dem Miniaturdorf Marwen ihre sehr physische Fortsetzung finden. Die Gefühle, die Mark im wirklichen Leben für Nicol zu empfinden beginnt, setzen sich auch in Marwen fort, wobei sich allerdings keine der attraktiven Frauen Hogie zu sehr nähern darf, denn die Hexe Deja (Diane Kruger) wacht eifersüchtig über jede zwischenmenschliche Interaktion. Die Übergänge zwischen Trick- und Realfilm sind zwar nicht immer gelungen und stören schon mal den Erzählfluss der Geschichte, andererseits stellt der Motion-Capture-Part auch sehr eindrucksvoll dar, welche Wege Menschen finden, Traumata so zu verarbeiten, dass sie in der realen Welt zurechtkommen.
Steve Carell („The Big Short“, „Vice: Der zweite Mann“) überzeugt einmal mehr in einer ernsten Rolle, ansonsten vermag nur Leslie Mann („Beim ersten Mann“, „Immer Ärger mit 40“) unter den SchauspielerInnen leichte Akzente zu setzen, aber den Frauen fällt sowohl in Puppen- als auch fleischlicher Form nur die Aufgabe zu, den geschundenen Mark/Hogie zu verwöhnen. Hier hätte zumindest in dem Realfilm-Part emotional etwas vielschichtiger gearbeitet werden können. Davon abgesehen bietet „Willkommen in Marwen“ ein ebenso ungewöhnliches wie eindringliches Filmerlebnis.
"Willkommen in Marwen" in der IMDb

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