Magnolia
Paul Thomas Anderson hat bereits mit seinen ersten beiden Filmen „Last Exit Reno“ (1996) und „Boogie Nights“ (1997) unter Beweis gestellt, dass in ihm ein großartiger Geschichtenerzähler steckt. Mit seinem erst dritten Film, dem dreistündigen Epos „Magnolia“ (1999), lieferte er schließlich ein Meisterwerk ab, das über die ganze Laufzeit nicht nur packend durch die Schicksale mehrerer Menschen in L.A. unterhält, sondern auch zum Nachdenken über Liebe und Schmerz, Schuld und Vergebung anregt.
Der sterbenskranke Fernsehproduzent Earl Partridge (Jason Robards), der von Phil Pharma (Philip Seymour Hoffman) gepflegt wird, kann nur noch mit größeren Morphium-Dosen seine Schmerzen lindern. Bevor sein Verstand völlig vernebelt wird, beichtet er seinem Pfleger die Sünden seines Lebens und bittet ihn, Kontakt zu seinem Sohn aufzunehmen, der sich schon vor Jahren von ihm abgewandt hat. Dass sein Vater seine Mutter betrogen hat, konnte Frank Mackey (Tom Cruise) ihm nie verzeihen. Mackey ist ein bekannter Selfmade-Erfolgstyp, der den Männern mit seiner Show „Alle Macht den Schwänzen“ aufzeigt, wie sie jede Frau, die sie haben wollen, auch ins Bett bekommen. Earls neue Frau, die etliche Jahre jüngere Linda (Julianne Moore), macht keinen Hehl daraus, dass sie Earl nur wegen seines Geldes geheiratet hat. Doch nun hat sie für den Todgeweihten ihre Liebe entdeckt und ist so verzweifelt, dass sie sich am liebsten selbst das Leben nehmen möchte.
Als Phil endlich zu dem Macho durchgestellt wird, ist Mackey so perplex, dass er nicht weiß, wie er sich seinem Vater gegenüber verhalten soll. Eine ähnliche Beziehung besteht zwischen dem prominenten Showmaster Jimmy Gator (Philip Baker Hall) und seiner Tochter Claudia (Melora Walters).
Gator moderiert die Gameshow „What did kids know?“, wo er jeweils drei Kinder gegen drei Erwachsene antreten lässt, und ist ebenfalls sterbenskrank. Als er seine Koks-süchtige Tochter aufsucht, um ihr von seinem Schicksal zu berichten, wirft sie ihn umgehend aus ihrer Wohnung. Um seiner Seele Erleichterung zu verschaffen, beichtet er seiner Rose (Melinda Dillon), dass er sie betrogen habe und dass seine Tochter glaubt, dass er sich an ihr vergangen habe. Doch das will er Rose gegenüber nicht eingestehen. Während Claudia ihren seelischen Schmerz mit lauter Musik und Koks betäubt, klopft der Officer Jim Kurring (John C. Reilly) an ihre Tür, um einer Beschwerde nachzugehen. Er ist so von der Frau fasziniert, dass er sie zunächst um einen Kaffee bittet, dann um ein Rendezvous.
Regelmäßiger Gast bei Gators Show ist das Superkind Stanley Spector (Jeremy Blackman), der so von einem ehrgeizigen Vater (Michael Bowen) angetrieben wird, dass er mitten in der Show aufhört, die Fragen zu beantworten. Donnie Smith (William H. Macy) war früher „Quiz Kid Donnie Smith“, doch sein Ruhm aus Kindertagen ist längst verblasst. Als der hoch verschuldete Mann auch noch von seinem Chef Solomon Solomon (Alfred Molina) entlassen wird, lässt er sich zu einer Verzweiflungstat hinreißen…
Kritik:
Paul Thomas Anderson hat sich beim Schreiben des Drehbuchs von „Magnolia“ durch Songs von Aimee Mann inspirieren lassen, die auch einen Großteil des ansonsten von Jon Brion komponierten Soundtracks ausmachen. Der ist zuweilen bewusst so laut ausgesteuert, dass die Dialoge zwischen den Figuren kaum zu verstehen sind. Es geht in „Magnolia“ eben nicht zwingend um das, was man sagt, sondern was man tut. Man kann zwar die Vergangenheit hinter sich lassen, aber die Vergangenheit lässt dich nicht los, ist einer der Leitfäden, die sich durch die episodenhaften Erzählungen ziehen.
Im Fokus stehen vor allem die beiden sterbenden Fernsehmacher, die sich im Angesicht ihres nahenden Todes ihre Sünden von der Seele reden wollen und den Kontakt zu ihren entfremdeten Kindern suchen. Die haben ihre eigenen Schlüsse aus den Fehlern ihrer Väter gezogen.
Während Claudia sich an flüchtigen Männerbekanntschaften, lauter Musik und Drogen berauscht, hat Mackey das Macho-Gehabe seines alten Herrn adaptiert und pervertiert. Seine Lebenslügen werden schließlich von der Fernsehreporterin Gwenovier (April Grace) aufgedeckt und regen Mackey zur Selbstreflexion an.
So stehen alle Figuren in dem Ensemble-Drama vor einem Scheideweg und vor der Frage, wie sie auf der einen Seite mit der auf sich genommenen Schuld umgehen und auf der anderen Seite die Last des erlittenen Schmerzes auffangen. Dabei dienen der Pfleger Phil und der Streifenpolizist Kurring als gute Samariter und Vermittler, so dass am Ende doch eine Aussöhnung möglich scheint.
„Magnolia“ ist ein von allen Darstellern großartig gespieltes, wunderbar einfühlsam inszeniertes und von Robert Elswit („Good Night, and Good Luck“, „There Will Be Blood“) in warme Bilder eingefangenes Drama über die Macht des Schmerzes und die Kraft des Verzeihens, über die Möglichkeit, den Kreislauf aus Lebenslügen zu durchbrechen und neu anzufangen. Die Tränen, die Claudia am Ende vergießt, haben schon eine ganz andere Qualität als die Tränen der Wut und des Schmerzes, die sie während der unerwarteten Begegnung mit ihrem verhassten Vater vergossen hatte. „Magnolia“ macht Mut, dass es durchaus möglich ist, großen seelischen Schmerz zu überwinden, dass es aber in den eigenen Händen liegt, seinem Leben eine andere Wendung zu geben.
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