Ein Leben in Furcht

Akira Kurosawa (1910-1998) hat Zeit seines Lebens immer auch eigene Erfahrungen in seine Filme einfließen lassen. Dabei erwies sich der Zweite Weltkrieg und die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki als besonders prägend in seinem Schaffen, besonders deutlich und direkt in seinem 1955 entstandenen Drama „I Live In Fear“, das hierzulande unter den Titeln „Bilanz eines Lebens“ bzw. „Ein Leben in Furcht“ bekannt geworden ist. 

Inhalt: 

Den Unternehmer Kiichi Nakajima (Toshirô Mifune) treibt eine tief sitzende Angst vor Atom- und Wasserstoffbomben um. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges sind die Zeitungen voll von Schreckensmeldungen über die Auswirkungen eines Atomkrieges, der sich zwischen den Großmächten USA, Großbritannien und der Sowjetunion anzubahnen droht. 
Den Berichten zufolge würden die radioaktiven Partikel vor allem über Japan niedergehen, weshalb Kiichi den Plan hat, mit seiner Familie nach Brasilien auszuwandern, wo die Gefahr von radioaktiver Strahlung nicht so groß sei. Er hat sogar schon einen Japaner gefunden, dem er dort eine Farm abkaufen könne. Doch mit seinem Plan, die familieneigene Fabrik zu verkaufen und mit den Erlösen das neue Leben in Südamerika zu finanzieren, stößt er nicht nur seiner Frau Toyo (Eiko Miyoshi) vor den Kopf, sondern vor allem den Kindern, die in Kiichis Unternehmen arbeiten und sich bereits über das Erbe streiten. Da sie die Beweggründe des Mannes nicht verstehen, planen sie, ihn durch ein Familiengericht entmündigen zu lassen. 
In die darüber beratende Kommission wird auch der Zahnarzt Dr. Harada (Takashi Shimura) berufen. In der schwülen Hitze des Sommers wird Kiichis Fall zu einer Nervenprobe für alle Beteiligten… 

Kritik: 

Die Angst vor einem Atomkrieg und seinen Folgen war gerade in Japan nach den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki mehr als nur diffus. Während der ebenfalls im Jahr 1955 gestartete „Godzilla“-Film diese Angst in einem Cartoon-Monster sublimierte, führt Kurosawa das Thema auf den Kern der japanischen Gesellschaft zurück, auf den Patriarchen und seine Familie. 
„I Live In Fear“ erweist sich nicht nur als Studie über die Formen einer alles anderen als irrationalen Angst, sondern ebenso als eine über die Brüchigkeit einer überkommenen Gesellschaftsform. 
Dem Familienoberhaupt wird vorgeworfen, egoistisch zu handeln, wenn er die Lebensgrundlage der Familie verkauft und sie für einen vermeintlich aberwitzigen Plan aufs Spiel setzt. Dabei ist Kiichi vor allem daran interessiert, an seinem Lebensabend nicht durch atomare Strahlung getötet zu werden und dass seine Kinder und Enkelkinder noch ein Leben vor sich haben. 
Kurosawa nimmt sich sehr viel Zeit, um die Bemühungen von Kiichis Familie zu beschreiben, den Status Quo zu erhalten und den eigenen Wohlstand abzusichern, den sie durch die Gießerei und das zu erwartende Erbe genießen. Zwar bekunden die Kinder ihr Verständnis für Kiichis Wunsch, lassen aber von ihrem Vorhaben, ihn entmündigen zu lassen, nicht ab. 
In der Kommission stellen sich der Richter und der Anwalt schnell auf die Seite der Kinder, während Dr. Harada starke Zweifel daran hegt, dass das Familienoberhaupt verrückt ist. Harada schließt sich der Entscheidung seiner beiden Kollegen dennoch an, sucht aber auf eigene Faust Kontakt zu dem Entmündigten und wird so Zeuge seines mentalen Verfalls. Wenn Kiichi schon nicht nach Brasilien flüchten kann, flüchtet er eben in den Wahnsinn. 
Kurosawa findet in dieser betörenden Geschichte von Angst und Wahnsinn, Verzweiflung und Verantwortung, Neid und Zerstörung immer wieder großartige Bilder, um gerade den Zerfall einer im Umbruch befindlichen Gesellschaft zu illustrieren, wenn etwa bei einem Familienrat die Töchter plötzlich Partei für ihren bettelnden Vater ergreifen oder die jüngere Mätresse des Patriarchen seiner Frau die Freundschaft anbietet, während die Familien der Mätressen alles daran setzen, dass das Gericht Kiichis uneheliche Kinder vom Gericht als seine leiblichen Kinder anerkennen zu lassen, damit sie ebenfalls vom Erbe profitieren. 
Der damals gerade mal 35-jährige Toshirô Mifune, der in insgesamt 16 Filmen von Kurosawa eine tragende Rolle spielte, wurde für diesen Film auf alt geschminkt, mit weißen Haaren und Colaglas-Brille versehen und lieferte eine bemerkenswerte Vorstellung als zunächst ängstlicher, dann verzweifelter und schließlich wahnsinniger Fabrikbesitzer, der als einziger in seiner Umgebung mit seiner Angst auch aktiv umzugehen versucht, dabei aber an der Hartnäckigkeit seiner Mitmenschen zugrunde geht.

Kommentare

Beliebte Posts