Nachtasyl
Die eindrucksvolle Werksbiografie des japanischen Meisterregisseurs Akira Kurosawa (1910-1998) ist durchzogen von Adaptionen mehr oder weniger berühmter Theaterstücke, beginnend mit dem Kabuki-Stück „Kanjincho“, das er 1945 mit „Die Tigerfährte“ umsetzte, über Dostojewskis „Der Idiot“ bis zu „Ran“ (1985), Kurosawas Version von Shakespeares „King Lear“. 1957 inszenierte Kurosawa, der schon früh sein Interesse an russischer Literatur bekundet hatte und sich von Tolstoi, Gogol, Tschechow und Turgenew beeinflusst sah, Maxim Gorkis 1902 entstandenes Stück „The Lower Depth“, das er aus dem Russland des späten 19. Jahrhunderts in das Japan der Edo-Zeit verlegte.
Inhalt:
In einem heruntergekommenen Mietshaus in Edo vermieten ein älterer Mann und seine verbitterte Frau Zimmer und Betten an die Armen. Unter den Mietern finden sich derzeit eine Hure, ein straffällig gewordener Gelehrter, ein heruntergekommener Samurai, ein alkoholkranker Schauspieler, ein Dieb und ein Handwerker mit seiner sterbenskranken Frau.
Die jüngere Schwester der Vermieterin vermittelt auch dem als buddhistischen Priester verkleideten Kahei (Bokuzen Hidari) ein Bett. Er übernimmt schnell die Rolle eines großväterlichen Vermittlers, doch haftet ihm auch etwas Geheimnisvolles an, was einige der Mieter vermuten lässt, dass seine Vergangenheit nicht makellos ist.
Der temperamentvolle Dieb Sutekichi (Toshirô Mifune) sieht sich als Mietshausvorsteher und unterhält eine Affäre mit der Vermieterin Osugi (Isuzu Yamada), obwohl er seine Aufmerksamkeit allmählich auf ihre gutmütige Schwester Okayo (Kyôko Kagawa) richtet, die allerdings wenig von ihm hält, was Sutekichi frustriert und seine Beziehung zu Osugi verschlechtert.
Eifersüchtig und rachsüchtig versucht Osugi Sutekichi dazu zu überreden, ihren Mann zu ermorden, damit sie ihn den Behörden übergeben kann. Der Dieb durchschaut ihren Plan jedoch und weigert sich, sich an dem Mord zu beteiligen. Als der Ehemann Wind von der Affäre bekommt, kann Kahei den Streit des Mannes mit Sutekichi gerade rechtzeitig deeskalieren.
Langsam erkennt Okayo das Gute in Sutekichi und lässt sich auf seine Annäherungsversuche ein…
Kritik:
Gorkis Stück etablierte sich nach seiner Erstaufführung in Tokio im Jahr 1910 zum festen Bestandteil des modernen japanischen Theaters und wurde bereits 1936 von Jean Renoir mit Jean Gabin in der Hauptrolle verfilmt, 1952 auch in Russland. Kurosawa und sein langjähriger Co-Autor Hideo Oguni haben Gorkis Erzählung aus dem imperialen Russland nach Tokio in die Mitte des 19. Jahrhunderts, als das Shogunat in seine Stücke zerfiel und Tausende unter unerträglichen Zuständen ihr Leben fristen mussten.
Im Gegensatz zu Kurosawas zuvor entstandener „Macbeth“-Adaption mit „Das Schloss im Spinnwebwald“ hielt sich der Filmemacher bei „Nachtasyl“ sehr eng an Gorkis Textvorlage, um zu zeigen, wie unterhaltsam das Stück eigentlich sei. Tatsächlich wartet der zweistündige Film mit einer Vielzahl an lebhaften, humorvollen Szenen auf, doch überwiegt der pessimistische Ton in einer Welt, in der auch der vermeintliche Priester den desillusionierten Bewohnern des sehr einfachen Hauses vergeblich Hoffnung zu verbreiten versteht.
Kurosawa thematisiert in „Nachtasyl“ einmal mehr die große Distanz zwischen Illusion und Realität. So träumt der stets betrunkene Schauspieler davon, noch einmal die Massen zu begeistern, kann sich aber nicht mehr an seine bekanntesten Zeilen erinnern. Der Mittellose behauptet, aus einer Samurai-Familie abzustammen, um seine Vergangenheit glorreicher zu zeichnen, als sie eigentlich war. Und der Dieb verspricht dem Objekt seiner Begierde, dass er eine ehrbare Beschäftigung annehmen könne, um ihnen beiden eine Zukunft zu ermöglichen.
Da Kurosawa nicht verhehlt, dass es sich bei „Nachtasyl“ um ein Theaterstück handelt, lässt er die Handlung fast ausschließlich in dem Mietshaus - gelegentlich auch davor - spielen und konzentriert sich ganz auf die einzelnen Figuren und ihre teils verhängnisvollen Beziehungen zueinander. Er lässt seine Figuren von Zeiten träumen, die nicht von Elend geprägt waren, von einer Zukunft, die kaum Hoffnung auf Besserung bereithält.
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