Der Wolfsjunge

Nachdem François Truffaut mit seinen Literaturverfilmungen „Fahrenheit 451“ (1966), „Die Braut trug schwarz“ (1967) und „Das Geheimnis der falschen Braut“ (1969) eher das Mainstream-Publikum anzusprechen versuchte, widmete er sich 1970 mit „Der Wolfsjunge“ einem sehr persönlichen Projekt, an dem er über mehrere Jahre arbeitete, es am Ende aber auf schlanke 81 Minuten komprimierte und bei dem er neben der Regie auch gleich die Hauptrolle übernahm. 

Inhalt: 

Im Jahr 1798 bemerkt eine Frau beim Pilzesammeln in den südfranzösischen Wäldern von Aveyron einen nackten Jungen (Jean-Pierre Cargol), der wenig später von Dorfbewohnern aufgegriffen wird, die mit Hunden nach ihm gesucht haben. Das Kind, das isoliert von menschlichen Kontakten unter Wölfen aufgewachsen ist und in einer Scheune gefangen gehalten wird, erreicht die Aufmerksamkeit des jungen Pariser Arztes Dr. Jean Itard (François Truffaut), der den Jungen zusammen mit dem Leiter des Taubstummeninstituts, Professor Philippe Pinel (Jean Dasté), einer eingehenden Untersuchung unterzieht. Dabei kommen sie zu dem Schluss, dass das Kind in jungen Jahren von seinen Eltern im Wald ausgesetzt worden sein muss, nachdem diese versuchten, ihm die Kehle durchzuschneiden. 
Auch im Institut ist der Wolfsjunge, der Victor genannt wird, nicht von Feindseligkeiten und Zurschaustellung sicher. Der Anstaltsleiter hält den Jungen sogar für schwachsinnig und will ihn in eine Irrenanstalt überführen. Itard jedoch glaubt, den Jungen erziehen zu können, und nimmt ihn mit zu sich nach Hause. So schwierig es zunächst auch ist, dem Jungen einfache Wörter und Buchstaben beizubringen, entdeckt Itard bei Victor bald deutliche Zeichen von Intelligenz und einen ausgeprägten Ordnungssinn. Trotz vieler Misserfolge gelingt es Itard, Victor die Bedeutung einiger geschriebener Wörter zu vermitteln und sein Gerechtigkeitsempfinden zu wecken… 

Kritik: 

Truffaut hält sich bei „Der Wolfsjunge“ eng am Sachbericht von Dr. Jean Itard, der sich Anfang des 19. Jahrhunderts intensiv mit der Erforschung und Resozialisierung eines in der Wildnis aufgegriffenen Jungens beschäftigte, nachdem dieser scheinbar als Kleinkind von seinen Eltern zum Sterben ausgesetzt wurde, aber wie durch ein Wunder überlebte und in der freien Wildnis ohne Kontakt zu anderen Menschen wie ein wildes Tier aufwuchs. Truffaut verkörpert selbst den Arzt und ließ als überzeugter Auteur-Filmer viele autobiografische Elemente in den Film einfließen. Schließlich hatte Truffaut selbst eine schwierige Kindheit, wurde von seiner Mutter nie als legitimes Kind anerkannt und wuchs bei Verwandten oder in Heimen auf. 
Dass „Der Wolfsjunge“ einen semi-dokumentarischen Charakter ausstrahlt, liegt nicht nur an der linearen Erzählung, die ohne Nebenhandlungen auskommt, sondern auch an der Inszenierung in Schwarzweiß mit Kommentaren zu Itards Versuchsanordnungen und Ergebnissen aus dem Off und dem regelmäßigen Einsatz einer anachronistisch wirkenden Irisblende. 
„Der Wolfsjunge“ zeigt darüber hinaus sehr pointiert auf, wie schwierig sich das Erlernen einer Sprache erweist. Truffaut verbindet dabei autobiografische Bezüge, und pädagogische Ansätze mit dem klassischen Coming-of-Age-Film. Es war Truffauts erste Hauptrolle, auf die später noch „Die amerikanische Nacht“ (1973) und „Das grüne Zimmer“ (1978) folgen sollten. 

Kommentare

Beliebte Posts