Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Kontinent

Seit seinem zweiten Spielfilm „Schießen Sie auf den Pianisten“ (1960), einer Verfilmung von David Goodis‘ Roman „Down There“, hat sich François Truffaut immer wieder literarischer Vorlagen bedient, wenn auch nicht immer so offensichtlich wie bei Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ oder Cornell Woolrichs „Das Geheimnis der falschen Braut“. 1971 verfilmte er mit „Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Kontinent“ erneut einen Roman von Henri-Pierre Roché, der bereits die Vorlage zu Truffauts Klassiker „Jules und Jim“ (1962) geliefert hatte. Diesmal zieht es Truffaut und seine Figuren allerdings in das ausgehende viktorianische Zeitalter zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Wales. 

Inhalt: 

Während sich der belesene Claude Roc (Jean-Pierre Léaud) in Paris von einer Knieverletzung erholt, stellt ihm seine wohlhabende Mutter (Marie Mansart) mit der jungen Waliserin Ann Brown (Kika Markham) die Tochter einer ihrer Freundinnen vor, die ihn während der ausführlichen Gespräche bei ihren Spaziergängen durch die Pariser Kunstwelt auf ihre Schwester Muriel aufmerksam macht, die sich daheim von einer Augenverletzung erholt und von der Claude sicherlich fasziniert sein wird. Kaum ist Ann nach Wales zurückgekehrt, lädt sie Claude zu sich nach Hause ein, wo sie gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Muriel (Stacey Tendeter) und ihrer sittenstrengen Mutter (Sylvia Marriott) ein recht zurückgezogenes und schlichtes Leben am Meer führt. 
Nachdem Muriel nach Claudes Ankunft zunächst noch auf ihrem Zimmer bleibt und ihre Augen mit einer schützenden Binde verdeckt hält, unternehmen die beiden Schwestern mit ihrem französischen Gast bald ausgedehnte Spaziergänge, spielen Tennis und diskutieren lebhaft alles, was ihnen wichtig erscheint. Dabei wird immer wieder deutlich, wie unterschiedlich die Lebenswelten der britischen Schwestern und des Franzosen sind, den sie nur den „Kontinent“ nennen. Es dauert jedoch einige Zeit, bis Anns Plan, Claude und Muriel zusammenzubringen, aufzugehen scheint. 
Als Claude tatsächlich um Muriels Hand anhält, sind weder Mrs. Brown noch die extra aus Paris angereiste Madame Roc von der Nachhaltigkeit dieser Absichten überzeugt, worauf sie mit Mr. Flint (Mark Petersen) einen Schiedsrichter einschalten. Auf seinen Vorschlag hin trennen sich Claude und Muriel für ein Jahr, ohne sich auch nur zu schreiben, um dann zu sehen, ob sie nach wie vor so intensiv füreinander empfinden, wie die Hochzeitspläne angedeutet haben. Bei seiner Rückkehr nach Paris, wo sich Claude als Kunsthändler betätigt, entdeckt er allerdings sein erotisches Interesse für Frauen… 

Kritik: 

Zwar hat Truffaut seinen beliebten Antoine-Doinel-Darsteller Jean-Pierre Léaud in einer anderen Rolle besetzt, damit dieser sich von seinem Image in dieser Rolle lösen kann, doch dem Thema Liebe und Beziehungen bleibt der Filmemacher treu. „Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Kontinent“ erzählt über weite Strecken eine geschwisterliche Freundschaft zwischen einem Franzosen und zwei englischen Schwestern, wobei ein Erzähler aus dem Off die Gefühle thematisiert, die die Bilder nicht hergeben. Wenn Truffaut sich in seinen früheren Filmen gern ausgiebig mit nackten weiblichen Formen beschäftigte wie in der Eingangssequenz von „Tisch und Bett“, als er die Kamera minutenlang auf Claude Jaudes nackten Beinen verharren lässt, zeigt sich der um 1900 spielende „Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Kontinent“ viktorianisch zugeknöpft. Über Gefühle wird gelesen, geschrieben und diskutiert, doch gelebt werden sie nicht. Erst als nach außen hin thematisierte Heiratspläne für eine Trennung der drei Freunde sorgen, kommt die körperliche Liebe ins Spiel, die allerdings mehr mit Ängsten und Notwendigkeiten zu tun hat als mit romantischer Leidenschaft. Truffaut macht sich einen Spaß daraus, die Unterschiede zwischen sinnenfreudiger, lebhafter französischer Kultur und zugeknöpfter, hochnäsiger englischer Lebenskultur aufzuzeigen. 
Erst als sich Claude, Ann und Muriel nach dem Trennungsjahr wiederbegegnen, beginnt der erotische Reigen, in dem zwar viel nackte Haut, aber wenig Leidenschaft zu sehen ist. 
Truffaut wollte aber auch keinen Film über körperliche Liebe drehen, sondern einen körperlichen Film über Liebe, was ihm auf etwas spröde Weise auch gelungen ist. 

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