Die Liebe am Nachmittag

Mit seinen „Moralischen Erzählungen“ hat Nouvelle-Vague-Regisseur Éric Rohmer zwischen 1962 und 1972 sechs Filme inszeniert, die sich auf extrem dialoglastige Weise mit (moralischen) Fragen über die Liebe auseinandersetzten. In der Regel steht dabei ein Mann im Zentrum des Geschehens, der vor dem Dilemma steht, sich zwischen zwei (oder mehreren) Frauen zu entscheiden. Mit „Die Liebe am Nachtmittag“ beendete Rohmer 1972 seinen ersten Film-Zyklus, den Arthaus erstmals komplett auf DVD veröffentlicht hat.
Frédéric (Bernard Verley) ist ein Mann im besten Alter und erfreut sich eines perfekten Lebens. Zusammen mit seinem Sozius Gérard (Daniel Ceccaldi) und den beiden Sekretärinnen Fabienne und Martine führt er im Zentrum von Paris eine erfolgreiche Anwaltskanzlei, zuhause wartet seine Hélène (Françoise Verley), die Englisch unterrichtet und gerade an ihrer Doktorarbeit schreibt, mit der gemeinsamen kleinen Tochter, ein weiteres Kind ist bereits unterwegs. Das Ehepaar hat sich so sehr in seinen Alltag eingelebt, dass es kaum noch ausgeht, sondern nur gelegentlich befreundete Paare zum Essen einlädt. Doch dann taucht eines Tages Chloé (Zouzou), die ehemalige Freundin seines damals besten Freundes, in seiner Kanzlei auf und will sich mit Frédéric verabreden. Zunächst redet er sich mit dem hohen Arbeitsaufkommen heraus, doch schließlich trifft er sich mit ihr auf einen Kaffee, dann immer öfter in seiner Nachmittagspause. Je mehr er ihrem Charme erliegt, desto mehr fragt er sich, ob es nicht möglich sei, zwei Frauen zu lieben …
Nach dem Kurzfilm „Die Bäckerin von Monceau“ (1962), „Die Karriere von Suzanne“ (1963), „Die Sammlerin“ (1967), „Meine Nacht bei Maud“ (1969) und „Claires Knie“ (1970) wirkt „Die Liebe am Nachmittag“ am unspektakulärsten, auch wenn der Film ungewöhnlich experimentell beginnt. Dafür sorgen nicht nur die elektronisch-avantgardistischen Klänge des belgischen Komponisten Arié Dzierlatka („Rollenspiele“, „Das Geistertal“), sondern auch die amüsante Sequenz im Prolog, als Frédéric davon träumt, mit einem Talisman ausgestattet in der Lage zu sein, jede Frau auf der Straße verführen zu können (darunter die aus früheren Rohmer-Filmen bekannten Françoise Fabian, Marie-Christine Barrault, Haydée Politoff und Béatrice Romand).
Sobald die eigentliche Geschichte mit dem Auftauchen von Chloé beginnt, hat sich Rohmer aber genügend Zeit genommen, die letztlich einfachen, wenn auch gehobenen Lebensumstände seines Protagonisten zu beschreiben und diesen wie gewöhnlich in Monologen aus dem Off seine Gedanken und Gefühle zum Besten geben zu lassen. Die wundervoll vielschichtig von Zouzou, Model-Ikone der 60er-Jahre und Star in Philippe Garrels Underground-Filmen, gespielte Chloé reißt gleich in mehrerer Hinsicht die Mauern von Frédérics bürgerlicher Existenz ein. Ihr Lebensstil mit wechselnden Partnern und verschiedenen Jobs und Aufenthalten im Ausland wirken geradezu konträr zu Frédérics festgefahrenem Lebensentwurf, und auch in emotionaler Hinsicht schwankt Chloé zwischen verführerischer Koketterie und schroffer Distanziertheit.
Vielleicht ist es gerade diese Unvorhersehbarkeit, die Frédéric so fasziniert, so dass er immer mehr Zeit mit Chloé verbringt und ihr gerade in dem Moment, als er schwach zu werden beginnt, gesteht, wie sehr er gerade in seine Frau verliebt sei. Wieder einmal geht es Rohmer nicht um das Ausleben und die Folgen einer Affäre, sondern nur um die intellektuelle Auseinandersetzung mit den moralischen, ganz persönlichen Fragen, Sehnsüchten und Bedenken, die seine männlichen Protagonisten in den Möglichkeiten einer Affäre sehen.
"Die Liebe am Nachmittag" in der IMDb

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