Meine Nacht bei Maud

Mit seinen sechs Filme umfassenden Zyklus „Moralische Erzählungen“ (1962-1972) hat der französische Filmemacher Éric Rohmer vor allem dialoglastige, teils philosophisch geprägte Diskurse über Vorstellungen von der Liebe präsentiert. Darunter nimmt „Meine Nacht bei Maud“ (1969) als vierter in der zeitlichen Reihenfolge entstandener, aber eigentlich dritter Film des Zyklus eine Sonderstellung ein, spielen hier vor allem religiös-philosophische Aspekte eine tragende Rolle.
Der vierunddreißigjährige Jean-Louis (Jean-Louis Trintignant) kehrt nach einiger Zeit im Ausland zu Weihnachten in die Kleinstadt Clermont-Ferrand zurück und wird bei seinen regelmäßigen Besuchen des katholischen Gottesdienstes auf eine junge blonde Frau namens Françoise (Marie-Christine Barrault) aufmerksam und beschließt, dass sie seine Frau werden soll. Allerdings bekommt Jean-Louis, der auf eine Reihe von Affären zurückblicken kann und seither eine Wandlung zum praktizierenden Katholiken vollzogen hat, zunächst keine Gelegenheit, Françoise näher kennenzulernen. Dafür trifft er in einem Café zufällig seinen alten Jugendfreund Vidal (Antoine Vitez), der immer noch seine marxistischen Überzeugungen bewahrt und mittlerweile als Philosophie-Dozent tätig ist. Er lädt ihn ein, zusammen mit ihm die attraktive Kinderärztin Maud (Françoise Fabian) zu besuchen, die seit ihrer Scheidung mit ihrer achtjährigen Tochter und einem Hausmädchen zusammenlebt. Nachdem sie den Abend über Ehe, Moral und Religion diskutiert haben, verabschiedet sich Vidal, während Jean-Louis aufgrund der schlechten Witterungsverhältnisse widerwillig Mauds Angebot annimmt, bei ihr die Nacht zu verbringen.
Während Maud nackt unter ihrer Decke im Bett liegt, macht es sich Jean-Louis vergeblich in seinen Kleidern mit einer Wolldecke auf dem Sessel bequem, legt sich schließlich mit seinen Sachen auf das Bett und widersteht Mauds offenkundigen Verführungsversuchen. Am folgenden Tag spricht er Françoise auf der Straße an und verbringt auch bei ihr witterungsbedingt die Nacht in einem gerade nicht belegten Zimmer eines Studentenwohnheims. Die Verabredung mit der 22-jährigen Biologie-Studentin verläuft ganz anders als bei Maud, wirkt Françoise doch weitaus distanzierter als Maud in der Nacht zuvor …
Nicht zufällig dürfte Éric Rohmer den Geburtsort von Blaise Pascal, Clermont-Ferrand, als Schauplatz seines fast schon kammerspielartigen Ensemble-Films gewählt haben, denn die Schriften des französischen Mathematikers, Physikers und christlichen Philosophen sowie ein 1965 dokumentiertes Streitgespräch zwischen dem Philosophen, Historiker, Semiotiker, Kunsthistoriker und -kritiker Louis Marin und dem Dominikaner Dominique Dubarle bilden die Grundlage für die philosophischen Diskurse, die die vier ganz unterschiedlichen Figuren in „Meine Nacht bei Maud“ auf sehr lebendige Weise miteinander führen.
Rohmer verzichtet wie schon in seinen vorangegangenen Werken, die dem Zyklus „Moralische Erzählungen“ zuzuordnen sind - „Die Bäckerin von Monceau“ (1962), „Die Karriere von Suzanne“ (1963) und „Die Sammlerin“ (1967) – darauf, selbst eine eindeutige Position zu beziehen, sondern ist allein an der Versuchsanordnung interessiert, in der sich Menschen mit unterschiedlichen moralischen, politischen, philosophischen Einstellungen miteinander austauschen. Dabei folgen die Begegnungen in „Meine Nacht bei Maud“ ganz dem Zufallsprinzip. Wenn Jean-Louis nicht zufällig Vidal in einem Café getroffen hätte, das beide sonst nie aufsuchen, hätte Jean-Louis nicht Maud kennengelernt und anschließend vielleicht auch nicht den Mut gefunden, Françoise anzusprechen. Die Zufälle werden zu sinnvollen Handlungen zusammengefügt, weil Jean-Louis ihnen Sinn verleiht. Dabei ist er von Mauds Freizügigkeit zu sehr irritiert, um sich auf die einlassen zu können. Ihm wird klar, dass er nur mit Françoise, die ähnliche Wertvorstellungen teilt, glücklich werden kann.
Obwohl wie schon in den zuvor realisierten Filmen des Zyklus Verführung eine große Rolle spielt, kommt es bei Rohmer auch bei „Meine Nacht bei Maud“ nicht zum Akt. Rohmer geht es eben nicht um die tatsächliche Verbindung zwischen Mann und Frau, sondern vor allem um die Voraussetzungen, unter denen sich Menschen anziehend oder abstoßend finden, inwieweit die jeweiligen moralischen Vorstellungen zwischen zwei Menschen einander ähneln müssen, um eine tiefere persönliche Bindung eingehen zu können.
Das führt allerdings dazu, dass die Figuren sehr distanzierte Beziehungen zueinander pflegen, weil sie nur die Verkörperung unterschiedlicher moralphilosophischer Positionen darstellen. Für romantische Gefühle ist hier kein Platz, weshalb die Filme von Rohmer sehr polarisierend wirken. Wer jedenfalls auf lebendig dargestellte philosophische Debatten steht, ist mit Rohmers Werk und vor allem mit „Meine Nacht bei Maud“ bestens bedient. Der Film erhielt jeweils eine Oscar-Nominierung als Bester fremdsprachiger Film und für das Beste Originaldrehbuch.
"Meine Nacht bei Maud" in der IMDb

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