Die lange Nacht

1939 inszenierte Marcel Carné mit „Le Jour Se Lève“ („Der Tag bricht an“) einen Krimi-Drama-Klassiker mit Jean Gabin, Arletty, Jules Berry und Jacqueline Laurent in den Hauptrollen. RKO produzierte 18 Jahre später ein US-amerikanisches Remake unter der Regie von Anatole Litvak („Die Schlangengrube“, „Entscheidung vor Morgengrauen“), der Henry Fonda und Vincent Price für die männlichen, die junge Barbara Bel Geddes und Ann Dvorak für die weiblichen Hauptrollen gewinnen konnte. Auch wenn Litvaks Version wegen Einhaltung des Hays Code nicht so explizit sein durfte wie das französische Original, ist dem gebürtigen Russen doch ein stimmungsvoller Film noir gelungen. 

Inhalt: 

In einer ganz gewöhnlichen amerikanischen Kleinstadt hört der erblindete Frank Dunplap (Elisha Cook Jr.) auf dem Heimweg im Treppenhaus einen Schuss, dann ein Poltern, schließlich kommt ein Mann zu seinen Füßen zum Erliegen. Eine Befragung von Nachbarn und Zeugen führt die Polizei zu der Erkenntnis, dass der Kriegsveteran Joe Adams (Henry Fonda) für die Tat verantwortlich sein muss. Doch als die Polizei ihn zu dem Vorfall befragen will, verbarrikadiert sich der Fabrikarbeiter in seinem Zimmer und stellt sich auch nicht, als die Polizei vom gegenüberliegenden Dach des Hotels das Feuer auf sein Zimmer eröffnet. Während sich auf der Straße immer mehr Menschen versammeln und der Sheriff nach wie vor versucht, Joe zur Besinnung zu bringen, denkt Joe darüber nach, wie alles angefangen hat … 
Die 17-jährige Jo Ann (Barbara Bel Geddes) taucht in der Fabrik auf, in der Joe arbeitet, und fragt ihn nach dem Weg zum Direktionsbüro, wo sie die bestellten Blumen abgeben kann. Bei dem unbefangenen Gespräch zwischen beiden, stellt sich heraus, dass sie nicht nur beide Jo(e) mit Vornamen heißen, sondern jeweils auch im Waisenhaus „Der gute Hirte“ aufgewachsen sind. Nachdem Joe herausgefunden hat, dass Jo Ann als Aushilfe in einem Blumenladen in der Nähe arbeitet und dort auch ein Zimmer hat, besucht er sie und geht eine romantische Beziehung mit ihr ein. Nach drei Wochen gesteht er ihr, dass er sie heiraten wolle, doch Jo Ann reagiert noch verhalten. Als sich Jo Ann von ihm verabschiedet, weil sie noch eine Verabredung habe, fährt Joe ihr nach und beobachtet sie, wie sie in einem Varieté mit dem Illusionisten Maximilian (Vincent Price) spricht, der dort seine Show präsentiert. Durch Maximilians desillusionierte Assistentin Charlene (Ann Dvorak) erfährt Joe, was für ein verführerischer Scharlatan Maximilian sein soll … 

Kritik:

„Die lange Nacht“ (alternativ: „Den letzten fressen die Geier“) ist ein klassisches Beziehungsdrama, dessen Ende mit dem Tod von Maximilian vorweggenommen wird. Insofern haben es Drehbuchautor John Wexley („Mr. X auf Abwegen“, „Auch Henker sterben“) und Regisseur Litvak eher den Fokus darauf gelegt, das Psychogram des Täters zu erstellen. Henry Fonda („Die zwölf Geschworenen“, „Der längste Tag“) spielt den Kriegsveteran Joe Adams als einfachen, aber freundlichen Mann, der mit Freuden seiner Arbeit in der Fabrik nachgeht und bei Nachbarn und Kollegen gern gesehen ist. Als vollkommen ehrlicher Mann, der Jo Ann bereits früh seine wahren Gefühle offenbart, ist es ihm ein Gräuel, dass ein so vornehm erscheinender Mann wie Maximilian mit seinen gefärbten Haaren und wortgewandten Gerede nur Lügen und Schmeicheleien verbreitet, denen ein so unerfahrenes Mädchen wie Jo Ann schnell erlegen ist. Da kann einem redlichen Mann schon mal das Temperament durchgehen, vor allem, wenn von dem überheblichen Scharlatan so vorgeführt und provoziert wird. Vincent Price überzeugt schon hier in der für ihn später so typischen Rolle des distinguierten Gentleman, wie er sie so meisterhaft überzeichnet in den späteren Edgar-Allan-Poe-Adaptionen von Roger Corman („Die Maske des roten Todes“, „Die Verfluchten“) zeigen sollte. 
Zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Männern agiert Barbara Bel Geddes („Vertigo – Aus de Reich der Toten“, „Dallas“) überzeugend als junges Mädchen, das erstmals mit der Liebe Bekanntschaft macht und völlig verwirrt ist von den unterschiedlichen Signalen, die sie von Joe auf der einen Seite und Maximilian auf der anderen bekommt. Das Quartett wird von Ann Dvorak („Ich war eine amerikanische Spionin“) abgerundet, die wesentlich lebenserfahrener als die junge Jo Ann ist und weitaus gelassener und realistischer damit umgeht, welche Art von Beziehung sie zu den Männern unterhält. Die an sich konventionelle Geschichte wird durch die starken Darsteller, die geschickte Schwarzweiß-Fotografie von Sol Polito („Arsen und Spitzenhäubchen“, „Mark Twains Abenteuer“) und Dimitri Tiomkins verführerischen Score verfeinert. 

Kommentare

Beliebte Posts