The Other Side of the Wind

Mit gerade mal 25 Jahren drehte Orson Welles „Citizen Kane“ (1941) und avancierte damit über Nacht zum Wunderkind in Hollywood, der sich allerdings mit jedem seiner Folgewerke an dem neunfach Oscar-nominierten Meisterwerk messen lassen musste, was seine weitere Karriere wie einen Fluch überschatten sollte. Nachdem er in Hollywood offensichtlich keine Filme mehr realisieren konnte, kehrte Welles nach zwanzig Jahren aus dem Exil in die (Alp-)Traumfabrik zurück, wo er 1970 begann, an seinem Comeback-Film zu arbeiten, den er diesmal ganz nach seinen Wünschen und ohne Einmischung eines großen Studios realisieren wollte. Es passt allerdings zu Welles‘ Lebensgeschichte, dass der Film – wie viele andere – zu seinen Lebzeiten nicht fertiggestellt werden konnte, nachdem die Produktion bereits Jahre in Anspruch genommen hatte und Welles 1985 im Alter von 70 Jahren verstarb. Als Netflix 2017 die Rechte an dem fertig abgedrehten, aber noch nicht vollständig geschnittenen Film „The Other Side of the Wind“ erwarb, machten sich Frank Marshall und Peter Bogdanovich daran, den weiteren Schnitt der insgesamt über 1000 Filmrollen zu überwachen. Am Ende ist „The Other Side of the Wind“ der wohl persönlichste Film des großartigen Filmemachers geworden – und eine bitterböse Abrechnung mit dem Studiosystem in Hollywood. 

Inhalt: 

Der einst gefeierte Regisseur J.J. „Jake“ Hannaford (John Huston) kehrt nach seinem jahrelangen Exil in Europa nach Hollywood zurück, wo er an seinem 70. Geburtstag auf der Party, die die österreichische Schauspielerin Zarah Valeska (Lilli Palmer) auf einer Ranch in Arizona für ihn veranstaltet, seinen Gästen seinen neuen Film „The Other Side of the Wind“ vorstellen will. An Hannafords Seite tummeln sich unzählige Filmemacher, Kritiker, Schauspieler und sonstige Filmschaffende, die noch nicht ahnen, dass der Film vielleicht nie fertiggestellt wird, denn zum einen ist sein Hauptdarsteller John Dale (Robert Random) während des Drehs einfach vom Set abgehauen und nicht wieder aufgetaucht, zum anderen ist die Produktionsfirma pleite. Als Studioboss Max David (Geoffrey Land) einen Teil des Films zu sehen bekommt, ist er von dem avantgardistischen Streifen so gelangweilt, dass er vor dem Ende der Vorführung das Kino verlässt, ohne dass Hannafords langjähriger Stammschauspieler Billy Boyle (Norman Foster) den potentiellen Geldgeber schlüssige Erklärungen für die fehlende Story liefern kann. 
Auch die Vorführung des Films auf der Ranch steht unter keinem guten Stern. Die zahlreich erschienenen Filmjournalisten und Cineasten wundern sich nicht nur, dass der Hauptdarsteller nicht anwesend ist, sondern nerven den zunehmend angetrunkenen Hannaford immer wieder mit Fragen – auch zu seiner sexuellen Orientierung. Zwar sei bekannt, dass Hannaford stets die Frauen und Freundinnen seiner männlichen Hauptdarsteller ausspannen wollte, doch seien es letztlich die Männer selbst gewesen, die es ihm angetan hätten. Die Vorführung des Films wird schließlich immer wieder durch Stromausfälle unterbrochen, bis ein nahegelegenes Autokino gemietet wird, wo der Rest des Films gezeigt werden soll. In der Zwischenzeit hat Hannaford seinem jugendlichen Freund, den mittlerweile selbst sehr erfolgreichen Filmemacher Brooks Otterlake (Peter Bogdanovich) seine finanzielle Misere anvertraut, der jedoch nicht mit seinem eigenen Geld aushelfen will. Als auch das erhoffte Ölgeld aus dem Iran ausbleibt, droht „The Other Side of the Wind“ nicht beendet werden zu können … 

Kritik: 

Orson Welles hatte seit seinem Durchbruch mit „Citizen Kane“, der mit einem Oscar für das von ihm und Herman J. Mankiewicz verfasste Drehbuch ausgezeichnet wurde, immer Probleme gehabt, seine Filmprojekte in Hollywood ohne größere Einmischungen zu realisieren, bis er 1947 entnervt nach Europa ging. Mit „The Other Side of the Wind“ wollte Welles endlich die Freiheit genießen, einen Film ganz nach seinen Vorstellungen zu drehen, war dabei aber auf unkonventionelle Geldgeber beispielsweise aus Frankreich und dem Iran angewiesen, doch führten politische Entwicklungen dazu, dass erst der Geldhahn aus dem Schah-Regime abgedreht wurde und dann das bereits teilweise fertig geschnittene Filmmaterial für Jahrzehnte in einem Pariser Tresor verschwand. 
Dank Netflix kommt Welles‘ letzter Film zum Glück doch noch zu seinem Publikum. Schon in den ersten Minuten wird klar, dass der von Schauspieler und Regisseur John Huston („Die Spur des Falken“, „Der Mann, der König sein wollte“) gespielte und an Ernest Hemingway angelehnte Figur des Regisseurs Hannaford niemand anderes als Orson Welles darstellt, der mit seinem Film „The Other Side of the Wind“ seine persönliche Abrechnung mit Hollywood präsentiert. 
Die Struktur des Films ist dabei als Film-im-Film angelehnt und erweist sich letztlich als Mockumentary angelegt, die eher beschreibt, wie der Film gedreht wird, um den es eigentlich geht. Hannofords Film, der in längeren Ausschnitten gezeigt wird, erzählt eine simple, aber stark erotisch aufgeladene Geschichte eines jungen Mannes, der von einer bildschönen Indianerin fasziniert ist, die er überall hin verfolgt. Welles ließ sich hier vor allem von den europäischen Kunstfilmen von Ingmar Bergman, Michelangelo Antonioni, Claude Chabrol oder Jacques Demy inspirieren und seine Geliebte Oja Kodar, die mit ihm auch das Drehbuch zu „The Other Side of the Wind“ schrieb, die Rolle der sehr freizügigen und geheimnisvollen Frau spielen, die den jungen Mann, der sie verfolgt, schließlich verführt. Doch die Zeit des New Hollywood, in der solch persönlichen Filme noch ein größeres Publikum finden könnten, ist vorbei. Stattdessen ist die Zeit der Blockbuster von „Star Wars“ und „Der weiße Hai“ angebrochen. Am interessantesten wird die Rahmenhandlung von „The Other Side of the Wind“, wenn sich Hannaford und seine Mitstreiter einmal von den Dokumentarfilmern unbeobachtet wähnen und die Probleme der Produktion thematisieren, aber Hannaford ist vor allem enttäuscht über den Verrat seines Freundes Otterlake, mit dem er dann auch bricht. 
Welles‘ letzter Film beginnt mit den sehr vielen und mit unterschiedlichen Filmformaten gedrehten und schnell geschnittenen Szenen sehr unruhig und dokumentieren zunächst die Aufregung, die die Ankunft des von Cineasten und Nachwuchsfilmemachern so verehrten Hannaford in Hollywood auslöst, aber nach und nach stellt sich wieder die alte Ernüchterung über die Probleme der Finanzierung eines ungewöhnlichen Filmprojekts ein. Welles macht hier keinen Hehl aus seiner tiefen Verbitterung, die er Hollywood gegenüber empfand, und schuf mit „The Other Side of the Wind“ ein großartiges Werk, mit dem er den Dokumentarfilm, wie wir ihn heute kennen, vorwegnahm. Weggefährten wie Dennis Hopper, Claude Chabrol und Paul Mazursky sind in kleinen Nebenrollen zu sehen, während Welles‘ Freunde John Huston und Peter Bogdanovich in den Hauptrollen glänzen. 
Unbedingt empfehlenswert ist auch die Netflix-Dokumentation „Sie werden mich lieben, wenn ich tot bin“ über die Entstehung von Orson Welles‘ letzten Film. 

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