All of Us Strangers

Der britische Filmemacher Andrew Haigh hat sich bereits in seinen früheren Filmen „Greek Pete“ (2009) und „Weekend“ (2011) sowie in der Serie „Looking“ (2014–2016) mit schwulen Lebensgeschichten auseinandergesetzt. Mit seinem neuen Werk „All of Us Strangers“, der losen Verfilmung von Taichi Yamadas Roman „Sommer mit Fremden“, liefert der Brite sein bisheriges Meisterwerk ab, das vor dem Hintergrund einer schwulen Liebesgeschichte vor allem Trauerbewältigung betreibt. 

Inhalt: 

Ein Feueralarm treibt den überwiegend fürs Fernsehen arbeitenden Autoren Adam (Andrew Scott) abends vor den Eingang des Londoner Apartment-Hochhauses, in dem er lebt. Als er so allein vor dem Gebäude steht und die Front hinaufblickt, fällt ihm nicht nur auf, dass das Haus kaum bewohnt ist, sondern wird auch auf einen jungen Mann aufmerksam, der ihm aus seinem Fenster heraus zu beobachten scheint. Wenig später taucht der bereits angetrunkene Mann namens Harry (Paul Mescal) mit einer Flasche japanischen Whiskeys an Adams Wohnungstür auf und würde ihn zu gern mit ihm zusammen verkosten, doch Adam lehnt das Angebot ab – und bereut es fast augenblicklich. 
Adam fasst den Entschluss, ein Drehbuch über seine Kindheit zu verfassen. Es soll im Jahr 1987 spielen, als er im Alter von elf Jahren seine Eltern durch einen Autounfall verlor, woraufhin er bei seiner Großmutter in Irland aufwuchs. Während er alte Langspielplatten hört und in Fotoalben herumstöbert, findet Adam ein Bild seines Elternhauses. Er fährt mit der Bahn in den Londoner Vorort Sanderstead, wo die Doppelhaushälfte immer noch steht. Scheinbar ziellos irrt er durch den Ort, bis er in einem Park einem jüngeren Mann mit Schnurrbart begegnet, dem er zu einem Spirituosengeschäft folgt. Der Mann stellt sich als Adams Vater (Jamie Bell) heraus, der genauso aussieht wie kurz vor seinem Unfalltod. Er lädt ihn spontan zu sich und Adams Mutter (Claire Foy) in die Doppelhaushälfte ein. Das Wiedersehen mit den nahezu gleichaltrigen Eltern fällt anfänglich etwas scheu aus, wird aber sehr herzlich. Sie sind erfreut, Adam als Erwachsenen kennenzulernen und zu sehen, dass aus ihm etwas geworden ist. Als er Harry vor dem Fahrstuhl in dem Apartment-Hochhaus wiederbegegnet, bahnt sich schnell eine Liebesbeziehung zwischen dem Mittvierziger Adam und dem Endzwanziger Harry an. Als sie vertrauter miteinander geworden sind, will Adam Harry auch seinen Eltern vorstellen… 

Kritik: 

Bereits mit den ersten Szenen stellt Andrew Haigh seinen Protagonisten Adam als einsamen Mann jenseits der Vierzig, der eher mit sich selbst beschäftigt ist, als Kontakt zu seinen Mitmenschen zu pflegen, sich alte Platten von Erasure, Frankie Goes to Hollywood und Pet Shop Boys anhört und überhaupt sehr der Vergangenheit zugewandt ist. Dass er als Fernsehautor tätig sein soll, mag man diesem melancholischen, offensichtlich völlig vereinsamten Typen kaum abnehmen, aber es erklärt, warum Adam kaum aus der Wohnung gehen muss. 
Durch die Begegnung mit dem viel jüngeren Harry nimmt sein Leben allerdings eine unerwartete Wendung. Das Trauma, so früh seine Eltern bei einem tragischen Unfall verloren zu haben, nimmt pathologische Züge an, als er seine Eltern in dem Alter, als sie gestorben sind, in dem Haus wiedertrifft, in dem er aufgewachsen ist. In seiner Fantasie spielt Adam durch, wie er seinen Eltern sein Schwulsein offenbart und wie sie darauf reagieren, die Mutter eher geschockt und besorgt, der Vater eher interessiert. Andrew Haigh gelingt es, durch den übergangslosen Wechsel zwischen den Jahrzehnten gefühlvoll aufzuzeigen, wie sich die gesellschaftliche Wahrnehmung homosexueller Liebe gewandelt hat. Für Adams Eltern und für den Jungen selbst war Schwulsein in den 1980er Jahren vor allem mit durchaus schmerzvoller Ausgrenzung verbunden, in der heutigen Zeit diskutiert man – so wie Adam und Harry – eher über die Begrifflichkeiten von „schwul“ und „queer“. 
Haigh gelingt das Kunststück, „All of Us Strangers“ als melancholische Liebesgeschichte ohne allzu kitschige Konnotationen zu inszenieren. Wenn Adam und Harry sich lieben, ist das nicht pornografisch, beschränkt sich aber auch nicht auf bloße Andeutungen. Während die Beziehung zwischen den beiden Männern voller Vertrauen und – emotionaler wie körperlicher - Nähe geprägt ist, entwickelt sich die Traumvorstellung von Adams Möchtegern-Beziehung zu seinen Eltern etwas problematischer und lässt Adam immer wieder in Melancholie versinken, weil er so gern mehr Zeit mit ihnen verbracht hätte. 
Neben der wie im ruhigen Fluss wirkenden Inszenierung und dem tollen Soundtrack sind es natürlich vor allem die grandiosen Darsteller, die „All of Us Strangers“ zu einem lange nachhallenden Kunstwerk machen. Was vor allem Andrew Scott („1917“, „Ripley“) mit wenigen Gesten und seiner Mimik zum Ausdruck bringt, ist einfach beeindruckend, aber auch Paul Mescal („Aftersun“, „Normal People“), Jamie Bell („Billy Elliot“, „Jumper“) und Claire Foy („Verschwörung“, „Die Aussprache“) geben ihren Figuren ein starkes Profil.  

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