1900

Der in der Emilia-Romagna geborene und mit Kindern ländlicher Bauern aufgewachsene Bernardo Bertolucci begann schon im Alter von sechs Jahren, Gedichte zu schreiben, und kam nach dem Umzug seiner Familie nach Rom in Kontakt mit dem Dichter und späteren Filmemacher Pier Paolo Pasolini, mit dem der junge Bertolucci auch die marxistische Grundgesinnung teilte. Nachdem Bertolucci seine filmische Karriere als Produktionsassistent bei Pasolinis „Accatone“ und als Co-Drehbuchautor bei Sergio Leones „Spiel mir das Lied vom Tod“ begonnen und als Filmemacher nach seinen politischen Filmen „Die Strategie der Spinne“ und „Der große Irrtum“ (aka „Der Konformist“) mit dem skandalumwobenen Erotik-Drama „Der letzte Tango in Paris“ (1972) seinen internationalen Durchbruch gefeiert hatte, realisierte er 1976 mit „1900“ sein Magnum Opus. Das über fünfstündige Drama bildet durch die Freundschaft zweier gänzlich unterschiedlicher Freunde ein halbes Jahrhundert italienischer Geschichte ab und ist nun von Koch Media als opulent ausgestattete Box mit drei Blu-rays und der Soundtrack-CD mit Ennio Morricones Score veröffentlicht worden.
Am 27. Januar 1901 stirbt nicht nur der berühmte Komponist Giuseppe Verdi, sondern auf dem Gutshof des wohlhabenden Patriarchen Giuseppe Berlinghieri (Burt Lancaster) werden gleich zwei Jungen geboren. Zunächst entbindet die Landarbeiterin Rosina Dalcò (Maria Monti) ihren unehelichen Sohn Olmo (Roberto Maccanti), der wie zuvor sein Vater sowie Großvater dem Gutsherrn dienen soll und während des Ersten Weltkriegs vor allem eine Zeit harter Arbeit und schwerer Entbehrungen erlebt. Dagegen soll Berlinghieris Sohn Alfredo (Paolo Pavesi) eine Laufbahn als Jurist und Gutsherr einschlagen. Obwohl beide Jungen auf dem Gutshof viel Zeit miteinander verbringen und Alfredo immer wieder vom Mut seines Freundes überrascht ist, wächst Alfredo als verwöhnter Stammhalter in feinen Kleidern in der Villa auf, während Olmo sich in den schmutzigen Ställen und auf den Feldern des Landguts herumtreibt. Ihre Wege trennen sich während des Ersten Weltkriegs. Während Olmo (nun: Gérard Depardieu) als einfacher Soldat an der Front kämpft, hat Alfredo (nun: Robert De Niro) als Offizier wenig zu befürchten. Mittlerweile verhärten sich die Fronten auf dem Gutshof: Guiseppe wiegelt nicht nur die Lohnforderungen seiner Arbeiter ab, sondern führt auch Landmaschinen ein, von denen die Arbeiter glauben, dass diese ihnen die Arbeit abnehmen werden. Doch die Arbeiter nehmen die Zustände nicht länger hin und engagieren sich in der Lege, der Arbeiterbewegung, für die Olmos Frau Anita (Anna Henkel-Grönemeyer) als Lehrerin arbeitet. Um die aufständischen Arbeiter wieder zur Räson zu bringen, ruft Guiseppe die Polizei zur Hilfe, doch die berittene Truppe sieht sich einer in sich geschlossen auftretenden Übermacht gegenüber, vor der sie kapituliert. Guiseppes Vorarbeiter Attila (Donald Sutherland) lässt sich allerdings dafür bezahlen, eine Truppe zusammenzustellen, die mit Gewalt gegen die Arbeiter vorgeht. Die Freundschaft zwischen Olmo und Alfredo wird zunehmend auf die Probe gestellt, zumal Alfredos Frau Ada (Dominique Sanda) eher mit Olmos sozialistischen Ideen sympathisiert …
Es ist nicht zu übersehen, dass Bertolucci mit „1900“ seinen großen Vorbildern Pasolini („Decamerone“, „Die 120 Tage von Sodom“), Antonioni („Rote Wüste“, „Blow Up“) und Visconti („Der Leopard“, „Tod in Venedig“) nicht nur nacheifern, sondern sie auch übertreffen wollte, wobei er mittels der eindringlichen Bilder von Kameramann Vittorio Storaro („Der letzte Tango in Paris“, „Apocalypse Now“) eine symbolträchtige wie einfache Sprache verwendete, die auch ein breites Publikum ansprechen sollten. So sorgten einige der expliziten Sexszenen für internationale Aufmerksamkeit und Skandale, aber auch für eine kurzzeitige Indizierung des Films in der italienischen Heimat. Grund des Anstoßes war die Szene, in der eine junge Frau gleichzeitig die Penisse von Olmo und Alfredo masturbiert, aber auch Attilas Mord an einem Jungen, den er zwang, den Geschlechtsverkehr von Attila mit seiner Geliebten Regina (Laura Betti) zu beobachten, dürfte die Gemüter erhitzt haben. So deutlich der bekennende Kommunist Bertolucci seine politischen Ansichten in „1900“ transportiert und dafür sehr archaische Bilder, Farben und Symbole findet, so blass bleiben doch die meisten der Figuren. Am ehesten gelingt es unter dem international prominenten Cast noch Gérard Depardieu („Danton“, „1492 – Die Eroberung des Paradieses“) mit temperamentvollem Gehabe, Robert De Niro („Der Pate II“, „Wie ein wilder Stier“) mit seinem zurückhaltenden Spiel und Donald Sutherland („Wenn die Gondeln Trauer tragen“, „Die Körperfresser kommen“) als gewaltverliebter Faschist, ihren Rollen etwas Profil zu verleihen, aber für leise Zwischentöne und tiefere Einsichten in die Motive der unterschiedlichen Charaktere hat Bertolucci nicht viel Raum gelassen. Dafür stellt er ebenso geschickt wie plakativ die Welten der sorglos im Wohlstand lebenden Patrone und der oft am Hungertuch nagenden, schwer im Dreck schuftenden und in einfachen Hütten lebenden Arbeiter gegenüber, wobei er nicht müde wird zu betonen, wie brutal die herrschende Klasse ihre Macht gegenüber des einfachen Volkes ausübt, wie auch die Männer Frauen wie ihren Besitz behandeln. So eindringlich und überwältigend das epische Drama in jeder Einstellung inszeniert ist, so wartet es bei einer Spielzeit von 317 Minuten zwangsläufig mit einigen Längen auf und ordnet die Einzelschicksale der sehr einseitigen Sicht auf die politischen Verhältnisse in Italien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter. Doch die wunderschöne Musik des legendären Ennio Morricone und die stimmungsvollen Bilder, die den Jahreszeiten und damit den unterschiedlichen Zyklen der Arbeit in der Landwirtschaft angepasst sind, machen „1900“ auch heute noch sehenswert. Die Bonus-Blu-ray wartet mit der einstündigen Dokumentation „Das Kino Bertoluccis“, Interviews mit dem Regisseur, dem Kameramann, dem Restaurator und den Schauspielern Robert De Niro und Donald Sutherland sowie den je viertelstündigen Featurettes „1900: The Story, the Cast“ und „1900: Creating An Epic“ auf.
"1900" in der IMDb

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