Ich und Du

Nachdem der italienische Filmemacher Bernardo Bertolucci seine Karriere mit stark politisch ausgerichteten Filmen wie „Die Strategie der Spinne“, „Der große Irrtum“ und „1900“ begonnen hatte, erreichte er nach seinem Skandalerfolg mit „Der letzte Tango in Paris“ mit Werken wie „Der letzte Kaiser“ und „Little Buddha“ auch ein breiteres Publikum. In den letzten Jahren ist es wegen eines Rückenleidens sehr ruhig um den umstrittenen Regisseur geworden. So hat er neun Jahre gebraucht, um nach „Die Träumer“ (2003) mit „Ich und Du“ seinen nächsten Film zu vollenden, seinen ersten in italienischer Sprache nach über dreißig Jahren.
Der 14-jährige Lorenzo (Jacopo Olmo Antinori) wird wegen seiner introvertierten Art oft von seinen Mitschülern gehänselt und geht deshalb nicht gern zur Schule. Da sich seine Mutter Arianna (Sonia Bergamasco) Sorgen um ihren Sohn macht, weil er keine soziale Kontakte pflegt, schickt sie ihn zum Kinder-Psychologen, wo er allerdings auch nichts von sich preisgeben mag. Um dem sozialen Druck zu entkommen, erzählt Lorenzo seiner Mutter von dem geplanten Ski-Ausflug seiner Klasse vor, an dem er allerdings nicht teilnimmt, sondern sich mit dem Zweitschlüssel im Keller eines Mietshauses seines Vaters versteckt, wo er für eine Woche Ruhe zu finden hofft. Er deckt sich mit Snacks und Getränken für eine Woche ein, liest in „Interview mit einem Vampir“, beobachtet eine Ameisenfarm und genießt die vollkommene Ruhe, die nur durch gelegentliche Telefonate mit seiner Mutter unterbrochen wird, der er von seinen vermeintlichen Urlaubserlebnisse berichtet. Doch die selbstgewählte Isolation währt nur kurz, denn Lorenzo erhält plötzlich Besuch von seiner Halbschwester Olivia (Tea Falco), die zunächst nur eine mit ihrem Namen beschriftete Kiste abholen will, aber letztlich auch eine Bleibe sucht. Um nicht verpetzt zu werden, muss Lorenzo seine Halbschwester notgedrungen dulden, doch ist er schnell von dem geheimnisvollen Mädchen fasziniert, das ihn aber auch mit ihrer Drogensucht und der dunklen Familiengeschichte konfrontiert …
Nach „Gefühl und Verführung“ (1996) und „Die Träumer“ (2003) hat Bernardo Bertolucci mit der Verfilmung von Niccolò Ammanitis Roman „Du und Ich“ ein weiteres Coming-of-Age-Drama inszeniert, das ganz vom Zusammenspiel der beiden jungen Hauptdarsteller getragen wird. Bertolucci greift dabei allzu vertraute Elemente aus seiner Werksbiografie auf. So kämpften schon Marlon Brando und Maria Schneider 1972 in „Der letzte Tango in Paris“ auf engstem Raum mit ihren inneren Dämonen. Nicht ganz so dramatisch und auch weniger offenkundig erotisch geht es in „Ich und Du“ zu. Es ist das intime Portrait zweier junger Menschen, die sich in der Welt um sie herum nicht wohlfühlen. Während Lorenzo sich, wie er seinem Psychiater wiederholt zusichert, für „normal“ hält und sich eher in seine Bücher und Musik vertieft, als die Auseinandersetzung mit der wirklichen Welt zu suchen, hat sich seine zehn Jahre ältere Stiefschwester an der Welt aufgerieben, drückt ihre Gefühle als Fotokünstlerin aus und entflieht ihrem Kummer mit Heroin. Ausgerechnet bei ihrem so unbedarften Stiefbruder versucht sie, einen harten Entzug durchzuziehen und wieder auf die Beine zu kommen.
Wie sich die beiden unterschiedlichen jungen Menschen in dem zwar zugerümpelten, aber mit Waschbecken, Schlafcouch und Toilette voll ausgestatteten Keller allmählich nahekommen, ist eindringlich inszeniert, bezieht seine Spannung aber einzig aus Olivias schweißtreibenden Entzugserscheinungen. Für filmische Höhepunkte sorgt auch der coole Soundtrack mit Songs wie „Boys Don’t Cry“ von The Cure, „Sing for Absolution“ von Muse, „The Power of Equality“ von Red Hot Chili Peppers und vor allem der italienischen Coverversion von David Bowies „Space Oddity“, „Ragazzo solo, ragazza sola“ von Mogol, während Bowies Original in der Schlussszene zu hören ist. Mit seinen frühen Meisterwerken lässt sich „Ich und Du“ allerdings nicht messen. Stattdessen arbeitet Bertolucci vertraute Themen auf sehr leise und unterschwellige Weise auf, wobei er zwar tief in die Psyche seiner Figuren einzutauchen versucht, dabei aber nicht immer eine glaubwürdige Form findet.
"Ich und Du" in der IMDb

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