Liebe in der Stadt

Noch vor Ende des Zweiten Weltkriegs entstand in Italien als Antwort auf den Faschismus die vom poetischen Realismus in Frankreich und dem Marxismus inspirierte Bewegung des italienischen Neorealismus, bei dem Regisseure wie Roberto Rossellini, Luchino Visconti, Federico Fellini, Vittorio De Sica und Michelangelo Antonioni versuchten, die ungeschminkte Wirklichkeit zu zeigen, die mit Mussolinis Diktatur einherging und gerade bei dem einfachen Volk zu Armut und Unterdrückung führte. Bevor der italienische Neorealismus Mitte der 1950er Jahre seinem Ende zuging, nahmen sich sechs Filmemacher in sechs Episoden unterschiedlichen Phänomenen der „Liebe in der Stadt“ (1953) an, darunter Federico Fellini und Michelangelo Antonioni.

Inhalt:

Carlo Lizzani begleitet in seinem elfminütigen Beitrag „Bezahlte Liebe“ Frauen, die in Rom als Prostituierte ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, oftmals, weil sie von ihren Männern/Freunden verlassen worden sind, Kinder haben und deshalb keine andere Arbeit finden, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die besondere Herausforderung besteht darin, den Razzien zu entgehen, weshalb es ungefährlicher erscheint, außerhalb des Zentrums auf den Straßen nach Freiern Ausschau zu halten, oder man flüchtet sich in Kaffees, wo die Straßenmädchen meist stillschweigend geduldet werden und mehr Kaffee trinken, als es ihrer Gesundheit zuträglich ist.
Ähnlich deprimierend ist Michelangelo Antonionis doppelt so langer Film „Selbstmordversuch“ ausgefallen, in dem verschiedene Menschen, vor allem Frauen, von ihren Versuchen erzählen, sich umzubringen, weil sie nach einer unglücklich verlaufenden Liebesgeschichte ganz auf sich allein gestellt waren und nicht wussten, wie sie weiterleben sollten.
Dino Risi filmt in „Paradies für drei Stunden“ das Treiben in den vorstädtischen Tanzlokalen, die sonntags von 15 bis 18 Uhr von jungen Leuten besucht werden. Hier finden sich Hausangestellte in Gesellschaft von Soldaten und tanzverrückten jungen Männern, die sich von ihren Pflichten erholen, sowie Mütter, die hoffen, für ihre Töchter eine gute Partie zu finden.
Federico Fellinis viertelstündiger Kurzfilm „Agentur für Ehevermittlung“ handelt von einem jungen Journalisten, der den Auftrag bekommt, einen Film über Vermittlungsagenturen im Dokumentarstil zu erarbeiten. Als er nach der Durchquerung eines wahrhaftigen Labyrinths eines obersten Stockwerks endlich das Büro der Agentur vorfindet, erzählt er der Heiratsvermittlerin eine absurde Geschichte eines vermeintlichen Freundes, der zwar wohlhabend sei und über ein großes Grundstück verfüge, aber unter Lykanthropie leide und sich deshalb bei Vollmond in einen Werwolf verwandle. Das hält allerdings ein verarmtes Mädchen vom Land nicht davon ab, sich bei dem Reporter zu melden und sich von der Krankheit des Freundes nicht abstoßen zu lassen.
Francesco Maselli und Cesare Zavattini begleiten in „Geschichte der Katarina“, mit 27 Minuten der längste Beitrag der Kurzfilmsammlung, die junge Mutter Caterina, die nach der Geburt ihres unehelichen Sohnes von ihrem Vater verstoßen wurde und von Palermo nach Rom gezogen ist, wo sie ohne Aufenthaltsgenehmigung versucht, eine Arbeit zu finden, um das Geld für die Amme zu verdienen. Da sie mit den Zahlungen in Rückstand geraten ist, wird ihr der Junge von der Pflegemutter wieder zurückgegeben. Verzweifelt setzt sie ihren Sohn aus und beobachtet aus ihrem Versteck heraus, wie der Junge gefunden und später zu Nonnen gebracht wird.
Zum versöhnlichen Abschluss folgt die Kamera in Alberto Lattuadas „Italiener schauen“ fein herausgeputzten Frauen und Männern auf den Straßen von Rom, wobei die Männer mit faszinierten, abschätzigen und wollüstigen Blicken den Frauen hinterherschauen, sie teilweise sogar verfolgen und dabei entweder einen Unfall mit ihrem Auto bauen oder vergeblich eine Treppe hinauflaufen, nur um zu beobachten, wie die verfolgte Frau von ihrem Freund empfangen wird.

Kritik:

Wie der Erzähler aus dem Off zu Beginn des Film-Journals andeutet, handelt es sich bei „Liebe in der Stadt“ nicht um klassisches Hollywood-Kino, wo Kirk Douglas und Lana Turner auf dramatische Weise das Kinopublikum um ihre Liebe mitfiebern lassen, sondern um die Liebe, mit der es ganz einfache Leute in Rom zu Beginn der 1950er Jahre zu tun haben. Abgesehen von wenigen Ausnahmen standen weder Drehbücher noch professionelle Schauspieler zur Verfügung.
Die Regisseure nehmen mit ihrer Kamera Aspekte der Liebe unter die Lupe, die im vom Krieg noch deutlich gezeichneten Rom mitnichten weder glamourös noch romantisch oder gar leidenschaftlich ausgeprägt ist. Wenn von Selbstmordversuchen und Prostitution die Rede ist, wird die ganze Tragweite von Schicksalen sichtbar, die von der Liebe sogar enttäuscht worden sind und zu allen Mitteln Zuflucht nehmen, um entweder irgendwie zu überleben oder ihrem tristen Dasein ein Ende zu setzen. 
Besonders Antonioni nutzt bereits eine weiße Wand, vor der sich seine Protagonisten aufstellen, um die Entfremdung der Menschen in der Stadt deutlich zu machen, was er in seinen späteren Meisterwerken „Die mit der Liebe spielen“, „Die Nacht“ und „Liebe 1962“ perfektionieren sollte. So kommt in „Liebe in der Stadt“ eine spürbare Authentizität des Lebens im Nachkriegs-Rom zum Ausdruck, wobei die Sehnsucht nach Liebe im Kampf um das pure Überleben nahezu in den Hintergrund gedrängt wird.

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