Unter Verdacht
In den 1940er Jahren hat sich Robert Siodmak gleich mit einer ganzen Reihe von Filmen wie „Zeuge gesucht“, „Weihnachtsurlaub“, „Onkel Harrys seltsame Affäre“, „Die Wendeltreppe“, „Rächer der Unterwelt“ und „Gewagtes Alibi“ einen Namen im Film-noir-Genre gemacht. 1944 entstand unter seiner feinsinnigen Regie das Drama „Unter Verdacht“ mit einem superb agierenden Charles Laughton in der Hauptrolle des bemitleidenswerten Killers.
London im Jahr 1902. Philip Marshall (Charles Laughton), Geschäftsführer der Tabakhandlung Frazer & Nicholson, lässt sich eigentlich kaum aus der Ruhe bringen. Wenn er den Büroburschen Merridew (Raymond Severn) mit der Entdeckung konfrontiert, dass jeden Tag ein paar Pence in der Portokasse fehlen, weist er ihn freundlich und gewissenhaft darauf hin, dass sich diese kleine Verfehlung schnell zu größeren Schandtaten entwickeln, dessen Zinsen er dann im Gefängnis bezahlen müsse. Unendlich leid tut es ihm auch, dass er der ebenso jungen und hübschen wie verzweifelt eine Arbeit suchenden Mary (Ella Raines) keinen Job als Sekretärin anbieten kann. Daheim erfreut sich Marshall an dem akkurat gepflegten Vorgarten seiner freundlichen Nachbarin Mrs. Simmons (Molly Lamont), doch kaum betritt er das eigene Haus, wird er von dem Gezeter seiner Cora (Rosalind Ivan) begrüßt, die sich lauthals über ihren Sohn John (Dean Harens) beschwert. Der wiederum ist so verdrossen darüber, dass seine Mutter die mühselige Arbeit mehrerer Tage einfach im Kamin verbrannt hat, dass er seine Sachen packt und zu einem Freund zieht. Dass Cora seinen geliebten Sohn aus dem Haus vertrieben hat, kann Marshall ihr nicht verzeihen. Er zieht in das leer gewordene Zimmer seines Sohnes ein, erklärt die Ehe für beendet und verbringt seine Abende lieber mit Mary, die dank seiner Hilfe endlich einen Job gefunden hat und die er zu Aufführungen und Abendessen einlädt.
Als seine Frau – endlich – stirbt, ist der Weg für Marshall bereitet, die Beziehung zu Mary zu festigen, doch dann taucht Inspektor Huxley (Stanley C. Ridges) auf und untersucht den mutmaßlichen Unfalltod von Marshalls Frau. Dabei lässt er Marshall gegenüber keinen Zweifel darüber, dass er glaubt, dass Marshall seine Frau umgebracht habe, nur beweisen könne er es eben noch nicht. Dafür spannt Huxley schließlich Marshalls trinksüchtigen, nichtsnutzigen Nachbarn Mr. Simmons (Henry Daniell) ein …
Kritik:
Ähnlich wie schon zuvor in „Zeuge gesucht“ hat Siodmak mit „Unter Verdacht“ einen eher unspektakulären Kriminalfall inszeniert, bei dem die Aufklärung des Verbrechens eher zweitrangig ist und stattdessen die psychischen Befindlichkeiten und das Verhalten der Protagonisten im Vordergrund steht. War es in „Zeuge gesucht“ noch die kämpferische und erfindungsreiche (ebenfalls von der wunderbaren Ellen Raines gespielte) Sekretärin, die ihren geliebten Chef vor der Todesstrafe retten will, ist es in „Unter Verdacht“ der liebevoll und fürsorglich wirkende Geschäftsführer, der unliebsamen Ballast auf mörderische Weise beseitigt.
Das Publikum dürfte sich schnell mit dem Täter identifizieren, denn sowohl die zeternde Cora als auch der unsympathische Simmons lassen kein Mitleid für ihr Schicksal zu. Eher fragt man sich, wie es der liebenswürdige Marshall überhaupt so lange mit dem Drachen aushalten konnte. Der Plot gipfelt schließlich in der durch den umtriebigen Inspektor aufgeworfenen Frage, wie weit Marshall mit der Verschleierung seiner Taten geht, ob er auch gänzlich unschuldige Menschen darunter leiden lassen würde. Allerdings sind die beiden Mordopfer fürchterlich überzeichnet, und auch die platonische Freundschaft zwischen Marshall und der über zwanzig Jahre jüngeren Mary wirkt alles andere als überzeugend. Dafür sind Siodmak wie schon in „Zeuge gesucht“ einige eindrucksvolle Momente gelungen, beispielsweise bei der ersten Begegnung zwischen dem Scotland-Yard-Ermittler und Marshall. Wie die Kamera bei Huxleys Schilderung des Tathergangs die einzelnen Stationen von Cora Marshalls Unglück nacheinander einfängt und dann auf der Rückenlehne des Sessels im Wohnzimmer hängenbleibt, wohin der Zuschauer leicht den Täter hinprojiziert, lässt Siodmaks Meisterschaft in seinem Fach erkennen. Darüber hinaus spielen sowohl Charles Laughton („Spartacus“, „Zeugin der Anklage“) als Mörder mit Gewissen als auch Ella Raines als liebenswerte Mary groß auf und machen „Unter Verdacht“ zu einem sehenswerten Drama, das allerdings die typischen Noir-Elemente wie expressionistische Bildgestaltung, eine Femme fatale und einen vom Schicksal und inneren Dämonen geplagten Protagonisten vermissen lässt.
So geht die Adaption von James Ronalds Roman „This Way Out“, der an den historischen Kriminalfall um den Mörder Dr. Crippen angelehnt ist, nur knapp als Film noir durch.
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