Alice lebt hier nicht mehr

Nachdem Martin Scorsese vier Jahre gebraucht hatte, um sein Regiedebüt „Wer klopft denn da an meine Tür?“ (1967) fertigzustellen, war er in dem Bestreben, sich als Autorenfilmer zu etablieren, auf der Suche nach einer eigenen Handschrift. Die Roger-Corman-Auftragsproduktion „Die Faust der Rebellen“ (1972) für American International Pictures war dazu wenig geeignet, doch schon mit seinem ersten Mafiafilm „Hexenkessel“ (1973) zeichnete sich ein erstes Profil ab. Überraschenderweise präsentierte Scorsese mit seiner ersten Produktion für ein großes Studio (Warner Bros.) wieder etwas ganz anderes, zog mit „Alice lebt hier nicht mehr“ (1974) von der Stadt hinaus in die Wüste, stellte nach „Die Faust der Rebellen“ wieder eine Frau in den Mittelpunkt seiner Geschichte und verschaffte seiner Hauptdarstellerin Ellen Burstyn den Oscar für die beste Hauptdarstellerin. 

Inhalt: 

Eigentlich hat Alice Hyatt (Ellen Burstyn) seit ihren Kindheitstagen von einer Karriere als Sängerin geträumt, doch nun hängt sie mit ihrem Mann Donald (Billy Green Bush) und ihrem elfjährigen Sohn Tommy (Alfred Lutter) in einer Kleinstadt in New Mexico fest. Nachdem ihr die Gleichgültigkeit ihres gewalttätigen Mannes über die Jahre aufs Gemüt geschlagen hat, sieht sie sich nach dessen Unfalltod gezwungen, ein neues Leben zu beginnen und ihren Traum von einer Gesangskarriere, die im kalifornischen Monterey ihren Anfang genommen hatte, zu verwirklichen. Sie verspricht Tommy, dass er das neue Schuljahr, ja, bereits seinen zwölften Geburtstag schon in Monterey verbringen würde, doch natürlich kommt es ganz anders. Um sich Geld für die Reise und ihr neues Leben zu verdienen, arbeitet sie unterwegs als Sängerin, doch als sie an den psychopathischen Ben (Harvey Keitel) gerät, der ihr verschwiegen hat, dass er verheiratet ist, muss sie mit Tommy schon wieder weiterziehen. Schließlich bekommt Alice in Tucson, Arizona, einen Job als Kellnerin in dem Diner von Mel (Vic Tayback), wo sie den sympathischen Farmer David (Kris Kristofferson) kennenlernt und sich an das Schandmaul ihrer Kollegin Flo (Diane Ladd) gewöhnen muss. 
Ihr Sohn Tommy langweilt sich meist in dem billigen Motelzimmer oder in dem Diner, freundet sich bei seinem Gitarrenunterricht aber mit Audrey (Jodie Foster) an. Schließlich lässt sich Alice auf eine Affäre mit David ein und beginnt sich, ein Leben mit ihm auf seiner Farm vorzustellen, doch als er nach einem Streit Tommy an dessen Geburtstag schlägt, scheint auch dieses Kapitel ihrer Erfahrungen mit Männern abgeschlossen zu sein. Allerdings muss sich Alice eingestehen, dass sie für David mehr empfindet, als sie vermutet hätte … 

Kritik: 

Nach seinem Achtungserfolg mit „Hexenkessel“ bekam Martin Scorsese haufenweise Drehbücher für Gangsterfilme zugeschickt, aus denen seine damalige Freundin Sandy Weintraub schließlich ein Vorauswahl getroffen hat. Das Drehbuch zu „Alice lebt nicht mehr hier“ von Robert Getchell („Dieses Land ist mein Land“, „Meine liebe Rabenmutter“) gelangte durch Ellen Burstyn zu Scorsese, als sie gerade durch ihre Rolle in dem Blockbuster „Der Exorzist“ in aller Munde war und Scorsese als Regisseur für den Stoff empfahl, nachdem sie „Hexenkessel“ gesehen hatte. 
Scorsese erzählt mit „Alice lebt hier nicht mehr“ die Geschichte einer Frau in den Mittdreißigern, die sich einerseits gezwungen sieht, als alleinstehende Mutter den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn zu verdienen, andererseits in ihrer kalifornischen Heimatstadt ihren Traum von einer Karriere als Country-Sängerin zu reaktivieren.  
Scorsese nutzt für den Einstieg eine ungewöhnliche Art von Rückblende. In einem rot überstrahlten Studio-Set (das bereits 85.000 Dollar des Budgets verschlang) singt die achtjährige Alice „You’ll Never Know“ und kommt dabei wie ihre Namensvetterin aus „Alice im Wunderland“ daher. 
Allein die künstliche Ausleuchtung durch einen stilisierten, 180° Grad umfassenden Sonnenuntergang deutet auf die Unmöglichkeit hin, den kindlichen Traum auch in Erfüllung gehen zu lassen. 27 Jahre später ist Alice einfach nur eine unzufriedene Ehefrau und Mutter, die erst durch den plötzlichen Tod ihres Mannes angetrieben wird, ihre frühere Passion wieder aufleben zu lassen.  
Scorsese beschreibt den langen Weg zur Emanzipation allerdings nur episoden- und skizzenhaft, was dem Umstand geschuldet sein mag, dass die ursprüngliche Version dreieinhalb Stunden auf nicht mal zwei Stunden zusammengeschnitten wurde. Aber auch so weist der Film noch Längen auf, denn wirklich viel geschieht in dieser Zeit nicht auf der Leinwand. Amüsant sind jedenfalls die schlagfertigen Wortgefechte zwischen Alice und ihrem neunmalklugen Sohn, aber auch das lose Mundwerk von Diane Ladd als Alices Kollegin Flo, mit der sie sich schließlich doch noch anfreundet. So wunderbar Ellen Burstyn ihre Figur auch spielt, wird ihr schwieriges Verhältnis zu den Männern doch nie in der Tiefe thematisiert, so dass auch das Ende nicht wirklich befriedigen kann. 
Scorsese hat vor Beginn der Dreharbeiten bereits eingestanden, dass er von Frauen nichts verstehe, und sein Versuch, sein Oeuvre durch einen Frauenfilm zu erweitern, ehrt ihn, aber erst mit „Taxi Driver“ (1976) sollte Scorsese seine wahre Bestimmung und seinen einzigartigen Stil finden.  

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