Das Privatleben des Sherlock Holmes
Nachdem Billy Wilder seine erfolgreiche Film-noir-Phase hinter sich gelassen und mit „Sabrina“ 1954 ins Komödienfach gewechselt hatte, probierte er sich zwischenzeitlich mit dem biografischen Drama „Lindbergh – Mein Flug über den Ozean“ und dem Krimi-Drama „Zeugin der Anklage“ (beide 1957) in anderen Genres aus, um dann fortan ausschließlich Komödien zu drehen. Nach „Manche mögen’s heiß“ (1959), „Das Appartement“ (1960), „Eins, zwei, drei“ (1961), „Das Mädchen Irma la Douce“ (1963), „Küss mich, Dummkopf“ (1964) und „Der Glückspilz“ (1966) ließ er sich vier Jahre Zeit, um sich mit „Das Privatleben des Sherlock Holmes“ auf satirische Weise des berühmtesten Detektivs aller Zeiten zu widmen.
In seinem Testament hat Dr. Watson (Colin Blakely) verfügt, dass die Truhe mit seinem Nachlass mit sehr persönlichen und kompromittierenden Erinnerungsstücken erst fünfzig Jahre nach seinem Tod geöffnet werden darf. Darin findet sich vor allem ein unveröffentlichtes Manuskript, das wohl Sherlock Holmes‘ (Robert Stephens) persönlichsten Fall dokumentiert: Aus lauter Langeweile und um seinen Geist vor einer Degenerierung zu schützen, nimmt Sherlock Holmes regelmäßig Kokain zu sich und nimmt aus purer Verzweiflung sogar eine Einladung zur letzten Vorstellung des russischen Balletts in London an, obwohl er Ballett wie die Pest hasst. Ihn treibt nur die Hoffnung zur Vorführung, dass dort ein neuer interessanter Fall auf ihn wartet. Als er vom Leiter des Ensembles der berühmten Primaballerina Madame Petrova (Tamara Toumanova) vorgestellt wird, muss Holmes jedoch zu seinem Leidwesen erfahren, dass die 48-Jährige nur einen passenden Mann zur Zeugung eines geniales Kindes sucht, das die herausragenden Eigenschaften beider Persönlichkeiten in sich vereint. Holmes vermag sich nur mit der Andeutung aus der Affäre zu ziehen, dass er homosexuell sei, was erklären würde, warum er mit Dr. Watson zusammen eine Wohnung in der Baker Street teilt. Diese Notlüge bringt aber schließlich Watson in die unerfreuliche Situation, dass er sich auf der Afterhow-Party hinter der Bühne nicht mehr in der feucht-fröhlichen Gesellschaft leicht bekleideter Frauen, sondern einer Schar homosexueller Tänzer befindet.
Daheim bekommen Holmes und Watson alsbald Besuch von einem Kutscher, der aus der Themse eine Dame gefischt hat. Obwohl sie einen Zettel mit Holmes‘ Anschrift bei sich hatte, kann sie sich an nichts erinnern. Bei einer näheren Untersuchung findet Holmes heraus, dass es sich bei der attraktiven Dame offensichtlich um Gabrielle Valladon (Geneviève Page) handelt, die ihren verschollenen Mann Emile sucht. Bei ihren gemeinsamen Nachforschungen scheuchen sie allerdings auch Holmes‘ Bruder Mycroft (Christopher Lee) auf, der im Dienste der britischen Regierung Holmes auffordert, die Finger von der Sache zu lassen. Doch das spornt den ehrgeizigen Detektiv erst recht an, der Sache auf den Grund zu gehen. Im schottischen Inverness kommen sie dabei nicht nur dem Geheimnis des Ungeheuers von Loch Ness auf die Spur, sondern auch einer ungewöhnlichen Erfindung, nach der auch die Deutschen suchen …
Kritik:
„Das Privatleben des Sherlock Holmes“ stellt bereits die achte Zusammenarbeit der beiden Drehbuchautoren Billy Wilder und I.A.L. Diamond dar, die auf den von Sir Arthur Conan Doyle basierenden Charakteren eine persönlichere Seite des weltberühmten Detektivs Sherlock Holmes thematisieren, nämlich seine Beziehungen zu Frauen. Dabei spielen Wilder und Diamond geschickt mit den Rollen, die Holmes und Watson verkörpern. Wie die sexuelle Ausrichtung der beiden Männer plötzlich aus der einzigartigen Anfrage der russischen Primaballerina ins Spiel kommt, ist einfach wunderbar amüsant inszeniert und von Robert Stephens („Cleopatra“, „Romeo und Julia“) und Colin Blakely („Ein Mann zu jeder Jahreszeit“, „Mord im Orient-Express“) vorzüglich gespielt.
Doch statt die aus der Not heraus zur Sprache gekommene Homosexualität weiter zu verfolgen, ändert sich die Situation mit einem Schlag, als die geheimnisvolle, vermeintlich knapp ihrer Ermordung entkommene Gabrielle Valladon die volle Aufmerksamkeit des Detektivs und seines Assistenten erfordert. Geneviève Page („Nur wenige sind auserwählt“, „Belle de Jour - Schöne des Tages“) bringt nämlich eine herrlich verführerische Note ins Spiel, der sich weder Holmes noch Watson entziehen können. Als das Trio in Inverness den Spuren von Gabrielles verschollenen Mann folgt, entwickelt sich die Satire doch noch zu einem klassischen Sherlock-Holmes-Fall, der aber bis zum Schluss seine persönliche Note beibehält, die Holmes mehr als üblich zusetzt.
Wie die vorangegangenen Komödien aus Billy Wilders und I.A.L. Diamonds Feder sprüht auch „Das Privatleben des Sherlock Holmes“ vor Dialogwitz. Dazu ist der Film wunderbar ausgestattet und von Miklós Rózsa großartig musikalisch untermalt, indem er sein „Violinkonzert, Op. 24“ für den Film adaptierte.
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