Das verlorene Wochenende
Nach seinem US-Regiedebüt mit „Der Major und das Mädchen“ (1942) avancierte Billy Wilder schnell zu einem der begehrtesten Drehbuchautoren und Regisseure in Hollywood, inszenierte mit „Frau ohne Gewissen“ (1944) sogar einen Meilenstein des Film noirs. Auch sein nachfolgender Film „Das verlorene Wochenende“ (1945) wird diesem Genre zugerechnet, obwohl er keine Kriminalhandlung thematisiert, stattdessen die Suchtprobleme eines Alkoholikers auf ungewohnt offene Art und Weise veranschaulicht, so dass die Alkohol produzierende Industrie sogar ernsthafte Anstrengungen unternommen hat, die Aufführung des Dramas zu verhindern. Stattdessen wurde „Das verlorene Wochenende“ mit vier Oscars ausgezeichnet und präsentiert den ebenfalls ausgezeichneten Hauptdarsteller Ray Milland in einer seiner besten Leistungen seiner Karriere.
Der 34-jährige New Yorker Don Birnam (Ray Milland) ist ein erfolgloser Schriftsteller, der noch nie in seinem Leben gearbeitet und auch bislang keine seiner Geschichten fertiggestellt hat. Stattdessen ist er ein starker Alkoholiker, der es nun aber immerhin zehn Tage lang geschafft hat, keinen Tropfen anzurühren, sehr zur Freude seines Bruders Wick (Phillip Terry), bei dem er wohnt und der auch für seinen Lebensunterhalt sorgt, und seiner Verlobten Helen St. James (Jane Wyman), die er vor dreieinhalb Jahren nach einer Opernaufführung kennengelernt hatte, als ihre beiden Mäntel in der Garderobe vertauscht wurden. Nun planen sie zu dritt einen Ausflug aufs Land übers Wochenende, doch als Helen erwähnt, dass sie noch zwei Konzertkarten für den Abend hätte, ergreift Don die Gelegenheit, Helen und Wick gehen zu lassen, während er selbst mit den zehn Dollar, die für die Reinigungsfrau bestimmt waren, in seine Lieblingsbar geht, nachdem er sich im Laden bereits mit zwei Whiskey-Flaschen eingedeckt hat. Ebenso wie dort hat der Bar-Betreiber Nat (Howard da Silva) bereits die Aufforderung von Dons Bruder erhalten, Don keinen Kredit auf seine Kosten zu gewähren, aber da Don seine Drinks bar bezahlen kann, fühlt er sich nicht weiter verantwortlich und schenkt seinem Stammgast einen Whiskey nach dem anderen ein. Natürlich verpasst er den Zug, den Helen und Wick nun zu zweit genommen haben.
Das freie Wochenende nutzt Don aber nicht dazu, seinen geplanten Roman mit dem Titel „Die Flasche“ anzufangen, sondern seine Vorräte leerzutrinken. Als sowohl der Whiskey als auch das Bargeld zur Neige gegangen sind, treibt Don ziellos durch die Straßen, versucht vergeblich, seine Schreibmaschine zu beleihen, stiehlt in einer Bar die Handtasche einer neben ihm sitzenden Frau, um seine Drinks bezahlen zu können, und borgt sich schließlich bei dem Callgirl Gloria (Doris Dowling), die unglücklich in Don verliebt ist, ein paar Dollar, um weiter trinken zu können …
Kritik:
Als Billy Wilder das zu großen Teilen autobiografische Buch „The Lost Weekend“ des Alkoholikers Charles R. Jackson während einer Zugfahrt von Chicago nach Los Angeles las, hatte er gleich den Wunsch, daraus einen Film zu machen, für den er eigentlich José Ferrer in der Hauptrolle besetzen wollte, auf Drängen des Studios aber den weitaus bekannteren Ray Milland nahm. Wilder gelingt es, die Alkoholsucht seines Antihelden mit stark kontrastierenden Schwarzweiß-Bildern eindrucksvoll zu illustrieren und vor allem die seelischen Nöte von Don Birnam zu schildern. Wie Ray Millands Figur in der Bar ausgerechnet dem Barmann schildert, in welchem Teufelskreis und Karussell er stecke, aus dem er nicht mehr aussteigen könne, bis es von selbst anhalte, ist ebenso beeindruckend wie seine verzweifelte Suche nach dem nächsten Drink.
Stundenlang taumelt er mit seiner Schreibmaschine, auf der er absolut nichts zustande bringt, durch die Straßen, doch leider haben die jüdischen Pfandleihen wegen eines Feiertags allesamt geschlossen. Mit welcher Scham Don Birnam auf sein eigenes verkorkstes Leben blickt, wird in der Szene deutlich, als er Helens Eltern in einer Hotelhalle kennenlernen soll und sie dabei zufällig belauscht, wie sie von ihm als unproduktiven Schriftsteller sprechen, der aber eventuell ein Vermögen besitze, so dass er nicht arbeiten müsse. Dabei ist Birnam schmerzlich bewusst, dass er nur dank der Großzügigkeit seines Bruders überhaupt einen Lebensunterhalt hat, dass er selbst aber nicht fähig ist, selbst eine Stellung anzutreten, mit der er sein Auskommen verdienen könnte.
Damit thematisiert Wilder, der zusammen mit Produzent und Drehbuchautor Charles Brackett („Boulevard der Dämmerung“, „Der Untergang der Titanic“) auch das Drehbuch schrieb, die Nöte von Künstlern, in einer materialistischen Welt unter sozialdarwinistischen Bedingungen überleben zu können, so dass ihnen oft kein anderer Ausweg als die Flucht in die Alkoholsucht bleibe. Ray Milland („Bei Anruf Mord“, „Der unheimliche Gast“) brilliert als an sich zweifelnder, selbstzerstörerischer Alkoholiker, der sich bis zur Besinnungslosigkeit betrinkt und von finstersten Alpträumen heimgesucht wird. Daneben überzeugt vor allem Doris Dowling („Der Teufel auf Rädern“, „Die blaue Dahlie“) als verführerisches Callgirl, für die der Suchtkranke aber unerreichbar bleibt.
Billy Wilder und seinem Kameramann John F. Seitz („Frau ohne Gewissen“, „Boulevard der Dämmerung“) gelingen immer wieder wunderbar eindringliche Bilder wie von der im Lampenschirm versteckten Whiskeyflasche, den Rändern der Whiskeygläser auf dem Bartresen und den Alptraumsequenzen, die Miklós Rózsa mit fremdartigen Theremin-Klängen musikalisch wunderbar untermalt hat. So ist „Das verlorene Wochenende“ zwar nicht thematisch in den Film-noir-Kanon einzureihen, wohl aber wegen seiner stilistischen Mittel.
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