Hexenkessel
Nach zwei äußerst unterschiedlichen Filmen, dem noch sehr uneinheitlichen, über vier Jahre entstandenen Debüt „Wer klopft denn da an meine Tür?“ (1967) und der Roger-Corman-Auftragsproduktion „Die Faust der Rebellen“ (1972), durfte Martin Scorsese mit seinem nächsten Werk endlich demonstrieren, welch außergewöhnlicher Filmemacher in ihm steckt. Scorseses zweite Arbeit mit Hauptdarsteller Harvey Keitel und seine erste mit Robert De Niro erweist sich nicht nur als sein erster Mafia-Film, sondern als wieder einmal religiös angehauchtes Drama um die rechte Lebensführung und großartige Charakter- und Milieustudie.
Ebenso wie seine Freunde Tony (David Proval), Michael (Richard Romanus) und Johnny Boy (Robert De Niro) versucht sich auch Charlie (Harvey Keitel) in Little Italy an einer Karriere in dem Milieu, das von Charlies Onkel Giovanni (Cesare Danova) als Don regiert wird. Allerdings trägt der strenggläubige Charlie eine schwere Last auf seinen Schultern. Seine Affäre mit Johnny Boys Cousine Teresa (Amy Robinson) muss er geheim halten, weil eine Liaison mit einer Epileptikerin für Onkel Giovanni nicht geduldet wird. Und Johnny Boy kann und will einfach nicht seine Schulden bei Michael abzahlen, kann keine Arbeit behalten, so dass Charlie, dem er einst aus der Patsche geholfen hatte, immer wieder zwischen den beiden vermitteln muss. Don Giovanni bietet seinem Neffen an, ein Restaurant zu übernehmen, doch bei den offenen Enden, die Charlie mit sich herumträgt, ist daran nicht zu denken. Schließlich droht Johnny Boy, Don Giovanni von der verbotenen Beziehung zwischen Charlie und Teresa zu erzählen …
Kritik:
Mit „Mean Streets“ hat Martin Scorsese begonnen, sich als Autorenfilmer zu etablieren. Zwar stand ihm Gegensatz zur vorherigen Auftragsarbeit für Roger Corman mit 300.000 Dollar nur die Hälfte des Budgets zur Verfügung, doch gelang ihm mit seinem dritten Kinofilm ein bemerkenswert authentischer Blick in das Leben der Menschen, die in Scorseses Viertel Little Italy leben, wo er 1950 mit seinen Eltern hingezogen war. Das Aufeinanderprallen der italienischen mit der amerikanischen Kultur durchdringt das Leben der Charaktere.
War „Die Faust der Rebellen“ noch von einer starken Frauenfigur geprägt, erweist sich „Hexenkessel“ als rein männlicher Film, in dem die epilepsiekranke Teresa gerade mal als Spiegelbild für Scorseses eigene schwere Asthma-Krankheit in Kindertagen und einige Nacktszenen taugt, ansonsten aber ganz im Hintergrund bleibt. Scorsese interessiert sich in seinem ersten echten eigenen Film nicht für eine packende Geschichte, sondern für die Figuren, die allesamt mit ihren Problemen zu kämpfen haben.
Tonys Bar dient als immerwährender Treffpunkt für die vier Freunde, wobei es überhaupt keine Rolle spielt, wie Charlie und Johnny Boy beispielsweise ihren Lebensunterhalt verdienen. Hier geht es nur darum, wie sehr die beiden voneinander abhängig sind und nicht das Leben führen können, das sie sich erträumen. Charlie hält schon in seiner ersten Szene vor dem Altar Zwiesprache mit dem Herrn und sieht Johnny Boy als Strafe Gottes für seine eigenen Sünden an. Tony hat in seiner Bar kein Problem damit, Leute von der Mafia zu bewirten, aber Dealer und Drogenabhängige wirft er hochkant auf die Straße. Michael geriert sich als großspuriger Hehler und Geldverleiher, lässt sich aber japanische Adapter als deutsche Qualitätslinsen andrehen. Und Johnny Boy sprengt einen Briefkasten in die Luft. „Hexenkessel“ wirkt mit den oft mit der Handkamera gefilmten Szenen auf den Straßen in Litte Italy streckenweise wie ein Dokumentarfilm, der das Leben der Menschen dort festhält. Das Handlungsgerüst wirkt da nur rudimentär und wird durch nackte Haut und Prügeleien, am Ende sogar durch eine Schießerei aufgepeppt, bei der Scorsese selbst den Abzug drücken darf.
Der Regisseur hat einiges an Autobiographischen in den Film gesteckt, wollte „Mean Streets“ (als Referenz an Raymond Chandlers Satz „down these mean streets a man must go“) als Versuch ansehen, sich und seine Freunde auf der Leinwand zum Leben zu erwecken, wobei Scorseses damalige Freundin Sandy Weintraub den Filmemacher dahin drängte, mehr von den Alltagsszenen in Little Italy unterzubringen und stattdessen auf die religiösen Bezüge zu verzichten, die das ursprüngliche Drehbuch noch stärker aufgewiesen hat.
So ist mit „Hexenkessel“ ein atmosphärisch dichtes Drama entstanden, das in den schlecht beleuchteten Bars, Billard-Salons, in dreckigen Hinterhöfen und auf vollgestopften Straßen das Leben irgendwie ziellos durch das Leben treibender Männer zeigt, die wie Scorsese selbst noch den richtigen Weg für sich finden müssen. Denn was dem jungen Filmemacher an Milieuschilderung bereits gut gelingt, lässt auf der Ebene der Erzählung noch zu wünschen übrig.
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