The Tree of Life

Die zwanzig Jahre, die der menschenscheue Terrence Malick nach seinem zweiten Film „In der Glut des Südens“ (1978) bis zu seinem siebenfach Oscar-nominierten Antikriegs-Epos „Der schmale Grat“ (1998) verstreichen ließ, haben offenbar etwas mit dem begnadeten Filmemacher gemacht, denn fortan schien Malick zunehmend weniger an konventionellen Erzählungen, sondern esoterischen Betrachtungen über die Schöpfung und die Natur des Menschen interessiert zu sein. 
Nachdem sowohl „Der schmale Grat“ als auch die eigenwillige Pocahontas-Variante „The New World“ immer wieder von atemberaubenden Naturaufnahmen durchzogen waren, nimmt dieses Element in dem 2011 entstandenen „The Tree of Life“ einen noch größeren Raum ein und lässt das eigentlich zentrale, aber nur bruchstückhaft erzählte Familien-Drama in den Hintergrund treten. 

Inhalt: 

Texas in den 1950er Jahren. Mr. O’Brien (Brad Pitt) ist stolz darauf, es in seinem Leben zu etwas gebracht zu haben. Er vereint über zwanzig Patente auf seinem Namen, hat eine wunderschöne Frau (Jessica Chastain) und drei Söhne - Jack (Hunter McCracken), R.I. (Laramie Eppler) und Steve (Tye Sheridan) -, die er streng christlich und autoritär erzieht, damit auch aus ihnen starke Männer werden, die sich nichts im Leben gefallen lassen müssen. Vor allem Jack, der älteste Sohn, hat unter der harten Hand seines Vaters zu leiden, was auch seiner überaus gütigen Mutter einen Stich ins Herz versetzt. Als Mrs. O’Brien einen Brief erhält, in dem ihr die Nachricht vom Tod ihres 19-jährigen Sohnes R. L. im Rahmen eines Militäreinsatzes übermittelt wird, ist die Familie von der Trauer überwältigt. Auch als Erwachsener muss Jack (Sean Penn), mittlerweile erfolgreicher Architekt in Houston, jeden Tag an seinen verstorbenen Bruder denken, das Verhältnis zu seinem Vater ist nach wie vor angespannt… 

Kritik: 

„Wo warst du, als ich die Erde gründete? … Als mich die Morgensterne miteinander lobten und jauchzten alle Gottessöhne?“. Mit diesem Vers aus dem Buch Hiob (Kapitel 38, Verse 4 und 7) des Alten Testaments eröffnet Terrence Malick nicht nur seinen fünften Film, sondern verleiht ihm auch einen spirituellen Rahmen, in denen die Familientragödie der O’Briens nur fragmentarisch eingebettet ist. 
Beginnend mit Mrs. O’Briens Erinnerungen an ihre Kindheit, die von ihrem inneren Monolog aus dem Off begleitet werden, reihen sich sporadisch einzelne Szenen aus dem Familienleben der O’Briens über die gesamte Laufzeit des Films aneinander, wobei der erwachsene Jack ebenfalls sehr früh eingeführt wird und so deutlich wird, dass es sich um seine ganz persönlichen Erinnerungen an seine Kindheit handelt. Das erklärt, dass seine Mutter kaum ein Wort verliert, sondern als engelsgleiche, gutmütige Beschützerin dargestellt wird, während sein Vater ihn auf zwar freundliche, aber doch sehr raue Art auf den harten Überlebenskampf in der ebenso rauen, gnadenlosen Welt da draußen vorzubereiten versuchte. 
So ganz mochte sich der junge Jack aber dem Diktat seines Vaters nicht fügen. Immer wieder versucht er zu rebellieren und auf eigene Weise die Welt zu erkunden, schießt einen Frosch mit einer Feuerwerks-Rakete in den Himmel und schmeißt Fenster mit Steinen ein. Die Furcht vor seinem Vater mischt sich schließlich mit einem Hass, der Jack sogar kurz in Versuchung führte, den Wagenheber zu betätigen, um den Wagen, unter dem sein Vater während einer Reparatur lag, auf ihn stürzen zu lassen. Diese Szenen wechseln sich mit Erinnerungen an das ausgelassene Spielen mit seinen Brüdern und der liebevollen Fürsorge seiner Mutter ab. 
In dem Spannungsfeld unterschiedlicher Erziehungsmethoden lernt Jack, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist, man aber nicht vor Ereignissen wie dem Tod seines Bruders geschützt ist, die man nicht beeinflussen kann. Diese Erkenntnis korreliert mit phantastischen Naturaufnahmen, für die sich Malick die Unterstützung von Douglas Trumbull (1942-2022) gesichert hat, der bereits für die visuellen Effekte für Science-Fiction-Klassiker wie Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“ (1968), Steven Spielbergs „Die unheimliche Begegnung der 3. Art“ (1977) und Ridley Scotts „Der Blade Runner“ (1982) verantwortlich gewesen ist. 
Gerade die Bilder von heftigen Vulkanausbrüchen, beeindruckenden Himmelsphänomenen, endlosen Sandwüsten, elegant dahinschwebenden Fischschwärmen und sogar Dinosauriern führen dem Zuschauer die Bedeutungslosigkeit des einzelnen Menschenschicksals vor Augen, und doch beschäftigt sich „The Tree of Life“ eindringlich mit den Fragen nach der Natur und Bestimmung des Menschen, der Götter, des Universums. Dabei verweigert sich der Film dogmatischer Antworten, regt allein zum Nachdenken an. Einmal mehr werden Malicks meditativen Bilderwelten von grandioser Musik untermalt, von Alexandre Desplats fast nur lautmalerischen Originalkompositionen ebenso wie von Zbigniews Preisners „Lacrimosa“ aus „Requiem for a Friend“ und Werken von Brahms, Berlioz, Tavener, Mahler, Bach, Górecki, Holst, Mussorgsky, Schumann und Smetanas „My Country“. 
Dagegen stehen die Schauspieler fast schon in zweiter Reihe. Brad Pitt, der den Film auch produziert hat, bringt nicht nur die Starpower mit, sondern überzeugt auch in der differenzierten Darstellung des ebenso strengen wie liebevollen Vaters. Daneben brilliert vor allem Hunter McCracken als junger Jack, der sich mühsam seinen eigenen Weg in die raue, alles vereinnahmende Welt suchen muss. So mischt Terrence Malick in seinem außergewöhnlichen Werk, das eine Herausforderung für konventionelle Sehgewohnheiten darstellt, eine elliptisch und fragmentarisch skizzierte Familientragödie mit esoterischen Fragen zu einem bild- und klanggewaltigen Meisterwerk. 

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