Inland Empire
Betrachtet man David Lynchs Oeuvre, fallen einem nur „The Elephant Man“, „The Straight Story“ und teilweise noch „Dune – Der Wüstenplanet“ ein, die halbwegs konventionelle Erzählstrukturen aufweisen. Die Lynch-typischen Werke – von seinem Debüt „Eraserhead“ über „Blue Velvet“, „Twin Peaks“ und „Lost Highway“ bis zu „Mulholland Drive“ – sind aber verworrene, surreal anmutende Traumsequenzen, die erst im Kopf des Zuschauers sinnhaft zusammengesetzt werden müssen. Fünf Jahre nach seinem gefeierten Meisterwerk „Mulholland Drive“ präsentierte der Ausnahme-Auteur 2006 mit „Inland Empire“ seinen wohl letzten Film. Schließlich scheint Lynch mit dem dreistündigen Trip am Ende seiner Reise angelangt zu sein. Noch wie sperrte sich ein Film heftiger gegen einen konventionellen Zugang.
Die renommierte Hollywood-Schauspielerin Nikki Grace (Laura Dern), die mit ihrem vermögenden polnischen Mann Piotrek Krol (Peter J. Lucas) in einer herrschaftlichen Villa mit Dienstpersonal. Eines Tages erhält sie Besuch von einer Frau (Grace Zabriskie), die sich mit einem starken osteuropäischen, offensichtlich polnischen Akzent als neue Nachbarin vorstellt und ihr von zwei polnischen Märchen erzählt und der Filmrolle, die sie bekommen hat.
Als das Gerede der unheimlichen Besucherin Nikki zunehmend verwirrt und ängstigt, bittet sie sie zu gehen. Tatsächlich bekommt Nikki die weibliche Hauptrolle in einem Film von Kingsley Stewart (Jeremy Irons). Vor den ersten Proben mit ihrem männlichen Co-Star Devon Berk (Justin Theroux) eröffnet ihnen der Regisseur, dass sich bei dem Film „On High in Blue Tomorrows“ nicht um ein Originaldrehbuch handelt, sondern um das unautorisierte Hollywood-Remake des deutschen Films „4-7“, der allerdings nie vollendet wurde, weil die beiden Hauptdarsteller ermordet wurden.
Tatsächlich gestaltet sich auch für Nikki die Arbeit an dem Film schwierig. In dem Verlauf der Dreharbeiten verschwimmen die Wahrnehmungen von Nikki und ihrer Rolle Susan Blue immer mehr miteinander…
Kritik:
Eine Platte dreht sich knisternd auf dem Plattenspieler, eine Frau singt ein altes polnisches Volkslied, ein Paar mit unkenntlich gemachten, verschwommenen Köpfen redet über Sex, drei Menschen mit Hasen-Köpfen sitzen in einem Wohnzimmer auf dem Sofa bzw. bügeln ihre Wäsche…
Während David Lynch in seinen früheren Filmen noch eine klassische Einleitung zu einer Geschichte präsentierte, die sich erst im weiteren Verlauf des Films in ihre Traumbestandteile auflöste, beginnt „Inland Empire“ gleich mit einer Reihe von ganz unterschiedlich gefilmten Szenen, die den Zuschauer unmissverständlich vor Augen führen, dass sie sich in Lynchland befinden und jede Erwartung an eine „normale“ Geschichte fahren lassen können. Selbst der Besuch der verschrobenen Dame in Nikkis Prachtvilla mutet schräg an. Offenbar weiß die in Orakeln und Parabeln sprechende Frau mehr über Nikki, als der verstörten Gastgeberin lieb ist.
Vorhang auf für ein dreistündiges Werk, das ganz auf die Perspektive von Laura Derns Figuren ausgerichtet ist. Ebenso wie die Schauspielerin Nikki zunehmend von der Filmhandlung mitgerissen wird und immer schwerer unterscheiden kann, ob sie noch auf dem Set oder bereits wieder in ihren eigenen Leben ist, kann auch der Zuschauer nicht mehr zwischen den Ebenen Film und Film-im-Film unterscheiden. Lynch, der den Film weitgehend selbst finanziert und vermarktet hat, setzte „Inland Empire“ ganz ohne künstlerische Kompromisse um, experimentierte erstmals mit der DV-Kamera, arbeitete mit ungewöhnlichen Perspektiven, dem Wechselspiel zwischen Licht und Schatten, Traum und Wirklichkeit, um die Geschichte einer Frau zu erzählen, die zwischen all dem nicht mehr unterscheiden kann. Die Gestalt, die Nikki zu Beginn der Proben zu dem Film, der auch noch auf eine Zigeunerlegende zurückgeht, auf dem noch nicht fertiggestellten Set wahrzunehmen scheint, ist am Ende sie selbst, wie wir später erfahren. Der Film stellt für Nikki nicht nur die vielleicht letzte Möglichkeit zu einem Comeback dar, sondern auch eine Flucht aus dem Gefängnis ihrer Ehe mit einem eifersüchtigen Mann, der sie eindringlich gewarnt hat, dass eine Affäre mit dem berüchtigten Playboy Devon ernste Konsequenzen nach sich ziehen würde.
Scheinbar machtlos irrt sie Flure und Korridore entlang, begegnet ihrem echten und dem Film-Ehemann – die verwirrenderweise ein- und dieselben sind -, steuert auf die unvermeidliche Affäre mit ihrem Co-Darsteller zu und gerät so in eine Spirale aus Angst, Gewalt und Tod.
Der omnipräsente Soundtrack mit Kompositionen von Krzysztof Penderecki, Witold Lutoslawski und Boguslaw Schaeffer sowie Songs von Nina Simone, Little Eva, Etta James und David Lynch verstärkt mit seinem grollenden Sounddesign die bedrohliche Stimmung und Nikkis/Susans Orientierungslosigkeit.
Dabei zehrt der Film bei aller inszenatorischen Finesse vor allem von Laura Derns beeindruckender Darstellung in ihren verschiedenen Rollen, als schicke Hollywood-Schönheit ebenso wie als abgewrackte, fluchende White-Trash-Schlampe, als eine von Devons vielen abgelegten Geliebten ebenso wie als Prostituierte, die von ihren meist viel jüngeren Kolleginnen nur ausgelacht wird.
„Inland Empire“ ist durch seine verschachtelte Film-im-Film-Struktur, die fließenden Übergänge zwischen den Figuren und ihren Rollen und die immer deutlich zutage tretende bedrohliche Stimmung ein schwer zu fassendes und interpretierendes Werk, wie es nur David Lynch zustande bringen könnte.
In winzigen Nebenrollen sind auch Nastassja Kinski, Harry Dean Stanton, Willam H. Macy, Diane Ladd, Julia Ormond, Mary Steenburgen und Laura Harring zu sehen.
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