Mulholland Drive
Seit sich David Lynch mit seinem vielschichtigen Meisterwerk „Blue Velvet“ (1986) die Herzen der meisten Kritiker gewonnen hat, ist er gern gesehener Gast in Cannes und anderen Filmfestivals ebenso wie bei der Oscar-Verleihung. Immerhin wurde Lynch schon dreimal für einen Oscar als bester Regisseur nominiert – zuletzt für sein 2001 entstandenes Meisterwerk „Mulholland Drive“, das ursprünglich als Pilotfilm für eine Fernsehserie geplant war und einmal mehr ein verwirrendes Spiel um Liebe, Leidenschaft, Träume und Identität darstellt.
Nachdem Betty Elms (Naomi Watts) im heimischen Deep River in Ontario, Kanada, einen Tanzwettbewerb für sich entscheiden konnte, will sie nun in Hollywood ihr Glück als Schauspielerin versuchen. Da ihre Tante gerade zu Filmarbeiten in Kanada unterwegs ist, kann Betty übergangsweise in deren noblen Apartment leben. Doch bei ihrer Ankunft erlebt die hübsche Blondine eine Überraschung. In der Dusche entdeckt sie eine nackte Frau (Laura Harring), die sich zwar vage an einen Autounfall auf dem Mulholland Drive, aber nicht an ihren eigenen Namen erinnern kann. Statt die Polizei zu rufen, bietet Betty der unbekannten Frau, die sich nach einem Blick auf das Filmplakat von „Gilda“ wie die Hauptdarstellerin Rita (Hayworth) nennt, ihre Hilfe an.
Der gemeinsame Blick in Ritas Handtasche offenbart allerdings keine Papiere, die Ritas wahre Identität enthüllen könnten, sondern einen Haufen Geldscheine. Schließlich kommt Rita beim Besuch eines Cafés und dem Blick auf das Namenschild einer Kellnerin der Name Diane in den Sinn. Gemeinsam machen sich die beiden Frauen auf die Spurensuche nach Ritas wahrer Identität und kommen sich dabei immer näher. Schließlich hat Betty ihr erstes Vorsprechen für einen Film und ist beim nachfolgenden Besuch eines Filmsets von dem Jung-Regisseur Adam Kesher (Justin Theroux) fasziniert, der gerade auf der Suche nach der weiblichen Hauptrolle für seinen nächsten Film ist. Bislang genoss der aufstrebende, selbstverliebte Filmemacher jede künstlerische Freiheit, doch nun drängen zwei Finanziers aus Mafiakreisen, die Castigliane-Brüder (Angelo Badalamenti und Dan Hedaya), ihn dazu, die Hauptrolle mit Camilla Rhodes (Melissa George) zu besetzen.
Da er sich zunächst kategorisch weigert, dieser Forderung nachzukommen, wird nicht nur die Produktion des Films boykottiert, sondern Keshers Geldreserven werden eingefroren. Zu allem Überfluss erwischt er zuhause seine Frau in flagranti mit dem Pool-Reiniger im Bett. Kesher trifft sich auf Anraten seiner Assistentin mit dem zwielichtigen Cowboy (Monty Montgomery), nimmt sich dessen Rat zu Herzen und besetzt die fragliche Hauptrolle mit der von den Mafiosi ins Spiel gebrachten Schauspielerin. Währenddessen machen Betty und Rita in Dianes Apartment eine furchtbare Entdeckung…
Kritik:
Wenn uns David Lynch auf einen Trip nach Hollywood, in die Stadt der Träume einlädt, darf man sicher sein, dass die Geschichte in einem Alptraum endet. „Mulholland Drive“ erinnert nicht von ungefähr an Billy Wilders Film-noir-Meisterwerk „Boulevard der Dämmerung“, der zu Lynchs Lieblingsfilmen zählt. Es sind aber nicht nur Elemente des Film noir, die Lynch in seinem zweieinhalbstündigen Mystery-Drama aufgreift, sondern ganz verschiedene Archetypen wie die naive Blondine, die geheimnisvolle Dunkle, die Femme fatale, den Cowboy, den Detektiv, den Gangster, den Auftragskiller und den Liebhaber finden sich in einem verwirrend verschachtelten Werk, das sich wieder einmal eindeutigen Interpretationen widersetzt.
Natürlich ist es ein Film über die Traumfabrik Hollywood, und zusammen mit der sympathischen Betty staunen wir über die Möglichkeiten, die sich hier auftun. Und ebenso wie Betty wollen auch wir erfahren, wer die geheimnisvolle „Rita“ ist, die erst mit vorgehaltener Pistole gezwungen wurde, mitten auf dem Mulholland Drive auszusteigen, um dann nach einem Crash mit einer Kopfverletzung und ohne Erinnerungen im leerstehenden Apartment von Bettys Tante Zuflucht sucht.
Betty ist ebenso wie Jeffrey Beaumont in „Blue Velvet“ von der Neugier getrieben, ein Geheimnis zu lösen, hier die Identität der schönen Fremden. Die Schnitzeljagd führt zwar zunächst zu einer leidenschaftlichen Liaison der beiden Frauen, doch nach der Entdeckung der Toten in Dianes Apartment zu einem krassen Wechsel in ihrer Beziehung zueinander.
Aus Betty ist Diane geworden, eine von Drogen und Alkohol zerrüttete Frau, die mitansehen muss, wie ihre Geliebte – aus der schutzbedürftigen Rita ist nun die abgeklärte und sadistische Camilla geworden – mit dem Regisseur Kesher anbandelt. Dass das Verwirrspiel um Liebe, Obsession, Traum und Identität so gut funktioniert, liegt nicht nur an der inszenatorischen Qualität, sondern auch an den beiden herausragenden Darstellerinnen. Naomi Watts („The Ring“, „King Kong“) verkörpert ebenso überzeugend die Doppelrolle der scheinbar naiven Betty (die allerdings schon beim Vorsprechen unter Beweis stellt, dass sie mit allen Wassern gewaschen ist) und der von ihrer Liebhaberin vorgeführten Diane, wie Laura Harring („Die Liebe in den Zeiten der Cholera“, „The Punisher“) als schutzbedürftige Frau ohne Gedächtnis und als raffiniertes Luder.
Um das Rätselhafte noch auf die Spitze zu treiben, bringt Lynch auch noch einen tölpelhaften Auftragskiller (Mark Pellegrino) ins Spiel, dessen Mission erst zum Ende hin aufgelöst wird. Bis dahin schleust Lynch sein Publikum durch eine Welt, in der nie deutlich wird, was sich im Traum oder in der Realität abspielt, so dass der Zuschauer sich immer selbst neu verorten und das Gesehene für sich interpretieren muss. Das macht auch „Mulholland Drive“ zu einem immer wieder neu aufregenden Filmerlebnis.
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