Die Wendeltreppe
Nach seiner Emigration in die USA hat Robert Siodmak mit „Zeuge gesucht“, „Weihnachtsurlaub“, „Unter Verdacht“ und „Onkel Harrys seltsame Affäre“ Mitte der 1940er Jahre gleich mehrere stilbildende Film noirs inszeniert und zählt zurecht neben Billy Wilder und Fritz Lang zu den prägendsten Noir-Regisseuren. 1946 schuf er mit „Die Wendeltreppe“ nicht nur einen weiteren Meilenstein des Genres, sondern nahm bereits Themen und Stilistik des italienischen Giallo-Kinos vorweg.
Neuengland um das Jahr 1916: Im Village Hotel einer Kleinstadt wird im Foyer „The Kiss“ gezeigt, den auch die stumme Helen Capel (Dorothy McGuire) mit atemloser Spannung verfolgt. Während der Filmvorführung wird im oberen Stockwerk auf Zimmer 9 eine gehbehinderte junge Frau (Myrna Dell) hinterrücks erdrosselt. Der Constable der Stadt (James Bell) hat so in einem weiteren Fall eines Serienmörders zu ermitteln, der es offenbar allein auf Frauen mit einem körperlichen Gebrechen abgesehen hat. Der junge Dr. Parry (Kent Smith), der sich zusammen mit seinem älteren Kollegen Dr. Harvey (Erville Alderson) die Leiche der jungen Frau angesehen hat, bietet der hübschen Helen an, sie mit seiner Kutsche zum außerhalb gelegenen Warren-Anwesen mitzunehmen, wo Helen als Dienstmädchen für Professor Albert Warren (George Brent) und dessen kranker Stiefmutter Mrs. Warren (Ethel Barrymore) angestellt ist. Ebenfalls im Landhaus leben noch Mrs. Warrens leiblicher Sohn Steve (Gordon Oliver), die Albert Warrens Sekretärin Blanche (Rhonda Fleming) und das Haushälterehepaar Oates (Elsa Lanchester, Rhys Williams).
Die bettlägerige Mrs. Warren zeigt sich beunruhigt anlässlich der jüngsten Mordserie und drängt die offensichtlich konkret gefährdete Helen, das Haus zu verlassen. Doch die pflichtbewusste Helen denkt gar nicht daran, muss allerdings miterleben, dass sich das Haus bei einem schlimmen Unwetter allmählich leert und sie sich dort allein mit der kranken Hausherrin und dem Mörder befindet…
Kritik:
Robert Siodmak hat „Die Wendeltreppe“ nach dem gleichnamigen Roman von Ethel Lina White verfilmt, wobei die Romanheldin weder stumm ist, noch unter einem anderen Gebrechen leidet. Mit diesem Kniff verorten Siodmak und sein Drehbuchautor Mel Dinelli („Das Todeshaus am Fluss“, „Das unheimliche Fenster“) die Geschichte gekonnt in den Gefilden des Film noir, nur dass sich die Protagonistin hier nicht durch ein vermeintliches Verbrechen von der Gesellschaft isoliert, sondern durch ihre Sprachlosigkeit an der Welt nur sehr eingeschränkt teilnehmen kann.
Siodmak hat „Die Wendeltreppe“ im Stil eines Gothic-Grusel-Krimis inszeniert, der seine Spannung nicht nur dadurch aufbaut, dass Helen in das Beuteschema des Killers passt, sondern Mrs. Warren auch überzeugt ist, dass sich der Mörder unter ihrem Dach befindet. Mit zu jener Zeit ungewöhnlichen Mitteln wie den immer wieder eingestreuten Großaufnahmen vom Auge des Killers, dem im Regen von hinten gezeigten Mann, der Helen auf ihrem Weg zum Haus folgt, und den schwarzen Handschuhen nimmt Siodmak sogar etliche Elemente des durch Filmemacher wie Mario Bava und Dario Argento geprägten Giallo vorweg, bleibt mit eindrucksvollen Licht- und Schatten-Spielen aber auch noch stark dem Film noir verhaftet. Dass die Story dabei gerade zum Ende hin nicht mehr sehr glaubwürdig aufgelöst wird, mag man hinsichtlich der stilistischen Brillanz des Films letztlich verschmerzen.
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